Beste Freunde und mehr? Gabriel D’Almeida, Xavier Dolan

Matthias & Maxime

Xavier Dolan erzählt die Geschichte eines lange aufgeschobenen Begehrens

Von Matthias gibt es eine Kinderzeichnung: ein Bauernhof mit Bäumen, Sonne, Wolken, vielen Tieren und zwei Figuren in einem Traktor. »Der Hof von M. und M.« steht auf der Rückseite. Ein siebenjähriger Junge projiziert sich in ein bilderbuchhaftes Leben mit dem besten Schulfreund. M. und M.: Das sind Matthias und Maxime, seit ihrer Kindheit Gefährten und so selbstverständlich miteinander verbunden, dass sie manchmal wie ein Paar wirken.

Der frankokanadische Regisseur Xavier Dolan — er selbst spielt den weichen, etwas durchlässigen Maxime berührend und mit einem Feuermal auf der Wange — vereint sie im ersten Teil des Films immer wieder im Bild: Matthias und Maxime auf dem Laufband im Fitnessstudio, im Auto, am Steg. In einer der schönsten Einstellungen sieht man sie in dem Haus, wo sie mit Freunden das Wochenende verbringen, beim Abwasch von außen durchs erleuchtete Fenster: ein Bild-im-Bild, das aber sogleich wieder abgelöst wird von dem Dolan-typischen Chaos aus bewegter Kamera und Durcheinandergequassel.

»Matthias und Maxime« beginnt an einer Weggabel. »Matt« ist dabei, sich in seinem Leben in Montreal einzurichten. In seiner Anwaltskanzlei ist er der Aufsteiger, die Beziehung mit seiner Freundin solide. Maxime dagegen lebt im Provisorium, jobbt noch immer als Kellner und versorgt seine alkoholkranke Mutter. Für Australien, wohin er in wenigen Wochen für zwei Jahre aufbrechen wird, hat er nicht wirklich eine Vision — »Ich versuche mich in Ruhe zu ...« — »orientieren«, vervollständigt Matt den Satz.

Vor Maximes Abreise steht eine Abschiedstour mit einer kleinen Gruppe von Freunden an, man kennt sich schon lange und pflegt Rituale. Allerdings ist im Wochenendhaus am See auch die nervtötende Schwester eines Kumpels zugegen, eine Filmstudentin mit steilen Vorstellungen vom Kino. »Der Film ist unfassbar impressionistisch und zugleich auch expressionistisch«, erklärt sie ihren Kurzfilm, für den sie Matthias und Maxime als unfreiwillige Darsteller verpflichtet. Eine Kussszene. Dolan zeigt den Kuss nicht, ihn interessiert mehr das Nachwirken, die aufgewühlten Gefühle, die er insbesondere bei Matt auslöst.

Bevor Dolan seine beiden Figuren gegen Ende wieder aufeinandertreffen lässt, folgt er ihnen zunächst in ihren jeweils sehr unterschiedlichen Alltag, währenddessen nähert sich der Tag der Abreise, markiert von Texteinblendungen, wie ein Countdown. Maxime ist immer wieder in heftige Streitigkeiten mit seiner Mutter verwickelt, in seinen Blessuren — einmal wirft sie ihm eine Fernbedienung so fest an den Kopf, dass er blutet — hallt sein innerer Aufruhr wider. Bei Matt äußert sich die Zerrissenheit zunächst in Teilnahmslosigkeit, bevor sie sich in unverhohlener Aggression gegenüber dem Freund Bahn bricht. Dolan verkürzt seinen Film aber nicht auf die Geschichte eines lange aufgeschobenen Begehrens, »Matthias & Maxime« ist ebenso ein Film über Freundschaft, Abschied und familiäre Verstricktheit. Schön auch der Gastauftritt des im queeren Kino (»Beach Rats«, 2017) großgewordenen Harris Dickinson. Er spielt einen jungen Anwalt, der seine Sexualität hinter Hetero-Geprotze verbirgt.

Nach seinem Ausflug ins englischsprachige Kino (»The Death and Life of John F. Donovan«, 2018) und in Produktionen mit französischen Stars (»Einfach das Ende der Welt«, 2016) kehrt Dolan mit seinem inzwischen achten Film zu einer im besten Sinne etwas bescheideneren Anordnung zurück. Auch wenn »Matthias & Maxime« die für Dolan typischen Themen, Figurenkonstellationen und Stilmittel (die Zeitraffer-Passagen, die Musikeinsätze) durchdekliniert, ist der Ton ungewohnt warm und zärtlich. In der gefühlsexplosiven Schlüsselszene, begleitet von »Song for Zula« von Phosphorescent, dehnt sich das Bildformat fast unmerklich in die Breite. Matthias und Maxime haben jetzt allen Raum.

(dto) CDN 2020, R: Xavier Dolan,
D: Xavier Dolan, Gabriel D’Almeida Freitas, Micheline Bernard, 119 Min., Start: 5.11.