Die abgeschirmte Kunst: Filip Januchowski , Foto: Zaucke Photography

Abschied von der Selbstverständlichkeit

Wie wird sich die Coronapandemie auf das künstlerische Denken und Arbeiten auswirken? Wir haben uns darüber mit Filip Januchowski unterhalten, der die Krise nicht nur als Komponist, sondern auch als Schauspieler erlebt

Erforderlich wären »vielfach gestaffelte, nötigenfalls das Publikum ring- oder kugelförmig umfassende Spielflächen«. Dabei wären Veränderungen des Standorts »der Kommunikationspartner Bühne und Publikum« ebenso möglich, wie die »Einrichtung von Kipp-, Dreh- und Liegesitzen […] für den Zuschauer« — Ziel ist der »omni-mobile, absolut verfügbare architektonische Raum«, gleichsam ein »Weltraumschiff des Geistes«, das »kommunikationsfähig nach allen Richtungen« sein müsse.

Der Text, dem diese Beschreibungen entnommen sind, stammt aus dem Jahr 1965 und trägt den etwas sperrigen Titel »Einige Gedanken über die Notwendigkeit der Bildung eines neuen Begriffes von Oper als Theater der Zukunft«. Er zeichnet das Bild einer künstlerischen Utopie mit der Skizze eines (Aufführungs)-Ortes, der wie ein Brennglas alle Künste sämtlicher Medien bündeln soll — von Architektur, über Malerei und Bildhauerei, Film und Fernsehen, bishin zu sämtlichen Formen des Sprech-, Musik- und Bewegungstheaters. Der Verfasser ist der eng mit Köln verbundene Komponist Bernd Alois Zimmermann. Dessen multimediale Oper »Die Soldaten« — im Entstehungsjahr des Textes in der Kölner Oper uraufgeführt — ist ein Schlüsselwerk der Nachkriegszeit. Es galt seinerzeit als »unaufführbar« — nicht nur wegen der unglaub­lich hohen Anforderungen an die ausführenden Musi­ker*innen, sondern auch wegen der Einbeziehung von Ton- und Bildtechnologien, die seinerzeit in der Praxis des Musiktheaters kaum erforschtes Gefilde darstellten.

Die Coronapandemie hat den gesamten Globus zu Beginn des Jahres in eine umfassende Krise gestürzt — ganz zu schweigen von bereits bestehenden politischen Missständen und humanitären Notlagen, die sich dadurch nurweiter verschärfen. Auch das öffentliche, kulturelle Leben kam von heute auf morgen vollständig zum Erliegen.

Wenige Monate später ist eben dieses Leben zwar wieder aufgenommen, aber nur unter strengen Auflagen und angedrehten Daumenschrauben möglich — zwar wurden einschlägige Hilfsmaßnahmen installiert, die jedoch den tatsächlichen Schaden nicht beheben, sondern ihn nur weiter aufschieben. Die Aussichten sind düster. Hätte die künstlerische Energie in einem »Weltraumschiff des Geistes«, wie es Zimmermann vor mehr als einem halben Jahrhundert entwarf, trotz Pandemie weiterhin wirken können? Oder wäre sie dort zumindest weniger angreifbar, gewappneter gegen das Corona­virus gewesen?

»Es wurden nicht nur die Konzert- und Opernhäuser geschlossen, sondern auch Kinos, Cafés … es wurde ja alles geschlossen!«, zweifelt Filip Januchowski. Während der aus Berlin stammende und dort lebende Komponist und Schauspieler von seinen Lockdown-Erfahrungen berichtet, seine Gedanken zu den Auswirkungen auf die Kultur ausführt, ist die Betroffenheit, aber auch die Sorge und Nachdenklichkeit deutlich wahrzunehmen. Er überlegt sehr intensiv, scheint die inneren Bilder zu drehen und zu wenden, versucht die flirrende Komplexität der Situation in Worte zu fassen. Ganz besonders beschäftigt ihn die omnipräsente soziale und physische Distanz — vor allem mit Hinblick auf die Schauspielerei: »Man kann nicht mit Abstand spielen!«.

Vor der Coronakrise hat er in zahlreichen Nebenrollen in Fernsehproduktionen des ARD und ZDF und Kinospielfilmen mitgewirkt. Begeistert erzählt er von seiner Arbeit am Set und erklärt, wieso er den Dreh mit einem so heterogenen Team wie im Film, als so entlastend und bereichernd empfindet: »Man kann sich fallen lassen in die Rolle. Das ist ein gemeinsames Projekt von vielen Menschen; man muss Vertrauen haben — in die*den Regisseur*in, in die Kamera und die Produktion, in das Drehbuch.« Doch die existenzbedrohende Situation, mit der seit März unzählige freiberuflich tätige Künstler*innen sämtlicher Sparten zu kämpfen haben, ist auch bei Filip Januchowski zum Alltag geworden: Die Aufträge bleiben schlichtweg aus.

Der Arbeit von Komponist*in­nen hingegen wurde durch die Pandemie zunächst nur wenig berührt — zumindest, wenn von den ausfallenden und verschobenen Proben- und Konzertterminen abgesehen wird. Denn der Kompositionsprozess ist in der Regel vor allem von klausurartiger Zurückgezogenheit gekennzeichnet. Viele berichten in Interviews sogar von einem plötzlichen »Mehr« an Zeit, von freigewordenen Kapazitäten. Trotz allem wiegt die Situation schwer. Die Eindrücke der Pandemie erlebt und verarbeitet auch Filip Januchowski massiv. All das fließt in jede Note ein, die er setzt: »Ich glaube, dass alles, was man aufnimmt, irgendwie durch einen Filter geht und am Ende ein Teil davon in der künstlerischen Arbeit enthalten ist. Bei mir passiert das unbewusst und ich denke nicht so viel darüber nach. Aber man ist immer untrennbar mit dem verbunden, was um einen herum passiert.« Gerade das Bedürfnis, sich mit den Aspekten der Einschränkung und Einengung auseinanderzusetzen, die so bestimmend für die Pandemie sind, nimmt er verstärkt bei sich wahr.

Seit letztem Jahr arbeitet er intensiv an einem neuen Stück für Klavier und zwei Stimmen — eine Auftragskomposition im Rahmen seines Aribert-Reimann-Stipendiums. Textliche Grundlage bildet ein altägyptischer Text; dieser handelt von einem Menschen, der mit der eigenen Seele über Politik, Ethik und den Sinn des Lebens diskutiert. Gerade durch die Tatsache, dass Filip Januchowski die eigene Auseinandersetzung mit dem Text in der Situation vor und während der Coronapandemie vergleichen kann, nimmt er deutlich bei sich wahr, wie bestimmte Bedeutungsebenen des Textes ein ganz anderes Gewicht erhalten. Denn es ist genau jener Aspekt der Enge, die ihm keine Ruhe lassen.

Gerade die Aufhebung und Umkehrung von Verengung in jeg­licher Hinsicht bildet für ihn ein ästhetisches Grundbedürfnis: Komponieren ist für ihn Freiheit, Aufhebung von Einschränkungen, Potenzieren von Möglichkeiten.

Doch wird sich die gegenwärtige Coronakrise langfristig auf die Arbeit der Komponist*innen, auf die ästhetischen Kategorien auswirken? Wird es rückblickend gar eine »Corona-Ästhetik« geben? Wird all das vielleicht sogar die Art und Weise, wie Kunst und Kultur gedacht, gelebt und gestaltet wird, nachhaltig verändern? Filip Januchowksi bezweifelt das und glaubt, dass so schnell wie möglich in alte Gewohnheiten und Strukturen zurückgekehrt wird. »Menschen vergessen sehr schnell«,  fasst er lakonisch zusammen. 

Doch lässt sich tatsächlich beobachten, dass ein Sujet — zugegeben: gezwungenerweise — insbesondere in den Konzert- und Opernhäusern »wiederentdeckt« wird: die Nachhaltigkeit des künstlerischen Betriebs .Denn dieser ist, wie sämtliche Bereiche unseres Lebens, in hohem Maße globalisiert. Das betont auch Filip Januchowski: »Es ist eine Bereicherung, Künstler*in­nen aus der ganzen Welt auftreten zu sehen und in künstlerische Arbeit einzubeziehen«, sagt er und ergänzt sofort: »Die Frage sollte dann aber sein: Wie kann Reisen nachhaltig gestaltet werden?« Tatsächlich ist es ist im Konzertbetrieb völlig selbstverständlich, dass ganze Orchester — natürlich mit Instrumentarium — quer über den Globus geflogen werden. Aber was ist, wenn diese Reisen überhaupt nicht mehr möglich sind?

Spätestens seit Beginn der neuen Spielzeit, zu dem zumindest in Deutschland unter strengen Auflagen ein eingeschränkter Konzertbetrieb wieder möglich ist, musste von dieser bequemen Selbstverständlichkeit Abschied genommen werden. Die Infektionsdynamik und der daraus resultierende nicht nur deutschland-, sondern weltweite Corona-»Flickenteppich« torpediert nun regelmäßig die Programmplanungen der Konzert- und Opernhäuser. Da müssen völlig neue Fragen beantwortet, Lösungen für ungewohnte Probleme gefunden werden: Was tun, wenn Künstler*innen aus dem Ausland, mitunter sogar bloß aus einer anderen Stadt desselben Bundeslandes, kurzfristig nicht mehr einreisen können? Oder aufgrund eines positiven Coronatests am Konzerttag unerwarteterweise nicht auftreten dürfen?

Fragen über Fragen — der Musikbetrieb ist durch die Coronakrise völlig auf sich selbst zurückgeworfen worden, was in der Tat wörtlich zu verstehen ist: Er ist dazu gezwungen, sich selbst und die eigenen Bedingungen radikal zu hinterfragen — Musik, Oper, Konzerte neu zu denken. Das sind freilich große Töne, doch dabei sind es genau die, die wir gerade jetzt, in diesen völlig verrückten Zeiten, so dringend brauchen. Genau das hat übrigens Bernd Alois Zimmermann vor 55 Jahren im besagten Text über die Zukunft der Oper sowohl selbst versucht als auch eingefordert, um in Bezug auf die damalige Situation zu konstatieren: »Die eigentümliche Situation, in der sich unser heutiges Theater [Anmerkung: Das gilt gleichermaßen für den gesamten Musikbetrieb] befindet, insbesondere in Deutschland, bringt es mit sich, dass über das, was für die Gegenwart zu fordern ist, als von etwas gesprochen werden muss, was erst die Zukunft bringen kann.«

Diese Aussage ist eigenartig und bemerkenswert zugleich, sagt sie doch irgendwo nichts und doch alles. Das, was nötig ist, kommt bedauerlicherweise erst morgen — wenn überhaupt. So ließe sich vielleicht der eher pessimistische Gestus dieser Worte beschreiben, der sich hinter der eleganten Oberfläche verbirgt. Doch so anwendbar diese Schlussfolgerung auch in Bezug auf die gegenwärtige Situation zu sein scheint, so unpassend ist sie letztlich. Denn die Pandemie hat uns in aller Deutlichkeit noch einmal eindringlich vor Augen geführt, dass Zukunft nicht geplant werden kann. Heute ist keine Zeit dafür, auf morgen zu warten — Kunst und Kultur dürfen niemals auf später verschoben werden. Oder, wie Filip Januchowski es auf den Punkt bringt: »Stillstand ist immer langweilig.«