Die Corona-Solidarität war eine eingeschränkte

Die deutsche Gegenwart ist durch die Abwehr von Vielfalt gekennzeichnet, sagt Lyriker und Essayist Max Czollek. Egal ob Rassismus bei der Polizei oder Corona-Krise: Die Deutschen hängen an der Idee von Leitkultur, so seine These. Was er dagegen setzt und warum das Theater dafür ein guter Ort ist, erzählt er im Interview

Herr Czollek, am Tag, an dem wir dieses Interview führen, kam heraus, dass ein 14-Jähriger hier in NRW Mitschüler per WhatsApp aufgefordert hat, ein »Blutbad« in einer Moschee und einer Synagoge anzurichten. Und Bundesinnenminister Horst Seehofer hat bekannt gegeben, dass es 377 rechtsex­treme Verdachtsfälle bei den deutschen Sicherheitsbehörden gegeben hat. Ist dieser Tag ein normaler deutscher Tag gewesen?

Kurze Antwort: Ja. Es ist ja erstaunlich, dass der Innenminister immer noch behauptet, es handele sich dabei um Einzelfälle. Man fragt sich doch verwundert, wann aus diesen Einzelfällen, die sich wie Perlen auf einer Kette reihen, eine Perlenkette — also ein strukturelles Problem — wird. Das gilt ja nicht nur für die Polizei, sondern auch für die Bundeswehr. Rechte Strukturen sind eine Normalität in deutschen Sicherheitsbehörden — und interessant ist, dass die Politik das nicht anerkennt.


Sie sagen, diese Ignoranz gegenüber Rechtsextremismus gehe auf eine »deutsche Leitkultur« zurück. Ich kenne den Begriff aus dem Diskurs um Migration der Jahrtausendwende, aber für Sie ist diese Denkfigur schon älter.

Die BRD und die DDR hatten nach dem Zweiten Weltkrieg ein gemeinsames Problem: Wie lässt sich so etwas wie ein deutscher Staat noch rechtfertigen? Sie haben dann jeweils sehr unterschiedliche Antworten darauf gefunden, in deren Zentrum jedoch bei beiden die Behauptung stand, ein besseres, geläutertes Deutschland geworden zu sein. Und nach 1989 hat sich daraus ein gesamtdeutsches Narrativ gebildet, das mit der WM 2006 seinen Höhepunkt erlebt hat. In den letzten Jahren können wir aber sehr genau nachvollziehen, dass die Realität diesem Narrativ nicht entspricht: Der Aufstieg der AfD, die Anschläge von Halle und Hanau sind nur ein paar Beispiele dafür. Aber trotzdem halten Politiker und Intellektuelle an der Erzählung der Wiedergutwerdung Deutschlands fest. Und diese Erzählung ist Teil der Fantasie von einer »deutschen Leitkultur«.


Ihr neues Buch »Gegenwartsbewältigung« beginnt mit der These, dass auch die Corona-Solidarität vom März dieses Jahres diesem Muster folgt. Das leuchtet mir nicht unmittelbar ein. Schließlich hat die Bereitschaft, die strengen Corona-Regeln zu befolgen, dazu geführt, dass Deutschland weniger Covid-19-Opfer zu beklagen hat als Staaten, in denen das nicht der Fall war. Die Menschen haben mit Rücksicht auf andere gehandelt.

Ja, das stimmt. Wir haben »Leben gerettet«, aber halt auch eine Menge Menschen verrecken lassen. Die Corona-Solidarität war ein Fall beschränkter Solidarität — und von der brauchen wir nicht unbedingt mehr. Die nationalen Grenzen waren während dieser Zeit so sichtbar wie lange nicht mehr, aber auch die innere Ausgrenzungen: Sexismus, Rassismus, Klassismus, die sich sowieso durch unsere Gesellschaft ziehen. Ob ich eine Wohnung habe oder nicht, ob ich auf Spargelfeldern oder in der Wurstfabrik arbeite ober ob ich Spargel oder Wurst nur konsumiere — das sind Dinge, die mit darüber entscheiden, ob mein Corona-Risiko hoch oder niedrig ist. Und wenn Bundespräsident Steinmeier sagt »Sie alle haben gerade Leben gerettet«, dann wiederholt das diese Vorstellung, wir Deutschen hätten etwas besonders gut gemacht. Aber das blendet halt aus, dass uns viele Menschen auch in der Corona-Krise herzlich egal waren — nicht zuletzt diejenigen, die in griechischen Flüchtlingslagern leben und ebenfalls erkrankten.


Ihr Gegenentwurf zur »deutschen Leitkultur« ist eine »jüdisch-muslimische Leitkultur«. Worin unterscheiden sich die beiden Leitkulturen denn?

Die Vorstellung von einer deutschen Leitkultur zielt auf eine relativ homogene, hierarchisch nach bestimmten Kulturidealen geordnete Gesellschaft. Sie ist ferner von der Vorstellung getragen, dass Pluralität und Heterogenität eine Gesellschaft schwächen. Differenz begreift sie als Problem, deshalb lautet ihr Paradigma ja auch Integration. Das Modell der radikalen Vielfalt, deren künstlerischer Ausdruck die jüdisch-muslimische Leitkultur ist, fordert einen Paradigmenwechsel: Vielfalt ist nicht das zentrale Problem, sondern die Grundlage unserer pluralen Demokratie und die Basis ihrer Wehrhaftigkeit.


Der Aufstieg der AfD und die Rückkehr von Integrations­diskursen finden vor dem Hintergrund einer wachsenden Liberalisierung gesellschaftlicher Werte und Gesetze sowie einer realen Konvivialität verschiedener Kulturen statt. Bedient der Leitkultur-Diskurs nicht letztlich nur eine schrumpfende Nische an Realitätsverweiger*innen?

Ihr Wort in Gottes Ohr. Der Mangel an Vorstellungskraft, dass die Rechten auch aus der Nische die Gesellschaft umbauen könnten, ist doch recht ahistorisch. In den 1920er Jahren gab es in Deutschland auch eine plurale Gesellschaft, der die Nazis eine komplette irre Fantasie von Reinrassigkeit entgegengestellt haben. Wenn das Unvorstellbare einmal geschieht: Shame on them! Wenn es ein zweites Mal geschieht: Shame on us! Aber es stimmt natürlich: Wir haben auch viel gewonnen in den letzten Jahren, was sehr wichtig war. Aber deshalb würde ich nicht sagen, dass es keinen Backlash geben kann.


Spielt die Linke an dieser Stelle nicht manchmal den rechten Diskursen in die Hände? Schließlich wird eine Politik der Vielfalt dort wieder verstärkt als »Identitätspolitik« diffamiert, die einer »reinen« Klassenpolitik im Weg stehen soll.

Identitätspolitik bedeutet, Gleichstellung einzufordern — auch unter Linken. Es ist ja kein Zufall, dass der Begriff selbst von lesbischen, marxistischen Frauen, dem Combahee River Collective, geprägt wurde, die den Anspruch hatten, dass Befreiung vom Kapitalismus nur dann gelingt, wenn sie auch die Befreiung von Schwarzen, Arbeiterinnen und Lesben beinhaltet. Identitätspolitik zielte also immer auch auf eine Verbindung der Diskriminierten untereinander. Und darauf, dass bestimmte Differenzen eine Rolle spielen. Es gibt nun mal einen Unterschied zwischen Deutschen und Juden. Und diesen Unterschied, der ja auch ein Unterschied in Wohlstand, Anerkennung und Familiengröße ist, kann man anerkennen und anschließend dennoch gemeinsam handeln. Das ist, was ich im besten Fall unter Identitätspolitik verstehen würde. Und ich glaube, für so eine Form des differenzbewussten Verbündet-Seins braucht es Wohlwollen, das nicht einfach zu erreichen ist. Manchmal gehen wir mit der gleichen Vehemenz auf Menschen los, die uns politisch eigentlich nahestehen, wie auf rechte Trolle. Ich denke, da ist auch im Sinne der Identitätspolitik noch Luft nach oben.


Gibt es eigentlich Kunst, Filme oder Literatur in Deutschland, die das, was Sie gesellschaftlich und politisch einfordern, vorwegnehmen?

Aras Ören und das, was man später Gastarbeiterliteratur nannte und aus dem dann das postmigrantische Theater um Shermin Langhoff wurde; Kanak Attack, das Ballhaus Naunynstraße oder die Kreuzberger 36 Boys, die eine der Keimzellen der HipHop-Kultur in Deutschland waren. Seit Jahrzehnten existiert eine Avantgarde, die die veränderten gesellschaftlichen Realitäten künstlerisch durchspielt und neue Narrative und andere ästhetische Praxen entwickelt. Und die gehen weit über das hinaus, was ich etwas salopp als Repräsentationsmoden bezeichnen würde, die saisonal bestimmte Figuren nachfragen. Nach Halle waren es Juden, nach Hanau waren es migrantisierte Menschen, nach Black Lives Matter Schwarze Frauen. Die Frage ist doch, wie wir in der pluralen Demokratie Anerkennung und Raum für die radikale Vielfalt ihrer Mitglieder schaffen können — auch mit einer Kunst, die alle meint, und nicht nur manche.


Bringt das Kunstmachen jenseits der deutschen Leitkultur denn eine bestimmte Ästhetik mit sich?

Ich glaube, man kann die Frage nicht universell beantworten, es geht immer um den Kontext und die Perspektive, die man einnimmt. Ich arbeite beispielsweise gerade mit dem Lyriker Jo Frank an einem Konzept, das wir als wehrhafte Poesie bezeichnen. Da geht es darum, den Blick zu wechseln, weg von einer Idee der Kunst und Kultur als Leitbild und hin zu einer Wahrnehmung der Kunst als widerständige Praxis. Wenn man so auf die Geschichte schaut, sieht man plötzlich, dass das Archiv deutschsprachiger Kunst voll ist von solchen widerständigen Werken. Heinrich Heine ist doch auch Teil einer widerständigen, jüdischen Kulturgeschichte. Nelly Sachs ist doch keine Versöhnerin, sondern eine Autorin, die Lyrik als eine Überlebenspraxis versteht. Bei so einer Relektüre des Archivs geht es mir auch darum, Autor*innen gegenüber einer vereinnahmenden deutschen Rezeption zu stärken. Denn das Widerständige jüdischer, aber auch postmigrantischer Autor*innen ist vielfach hinter dem Bedürfnis der Deutschen nach Wiedergutwerdung unsichtbar geworden. Das bedeutet nicht, dass Kunst irgendeine Heilung bedeutet — Kunst ist wie jede andere Äußerung ein Symptom der Krankheit, die wir Gesellschaft nennen. Aber es ist doch etwas anderes, ob ich die ästhetische Praxis als erbauliche Hochkultur oder als Teil einer Praxis der Wehrhaftigkeit verstehe.


Sie arbeiten hauptsächlich am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Jetzt gehen Sie aber auf Tour. In zwölf Städten, darunter auch Köln, kuratieren Sie die »Tage der jüdisch-muslimischen Leitkultur«.

Ja, und mit dem Titel geht es mir nicht darum, eine Utopie zu formulieren. Vielmehr möchte ich sichtbar machen, dass die Gesellschaft schon heute an vielen Stellen als Gesellschaft der radikalen Vielfalt funktioniert. Und dass die politischen Konzepte jetzt entsprechend aktualisiert werden müssen. Und darum habe ich das Format des dezentralen Kongresses entwickelt, weil dabei die Schwarmintelligenz der beteiligten Institutionen und Stadtgesellschaftlichen kombiniert werden kann. Unser Slogan heißt ja nicht umsonst: »Aus der Bubble in die Charts«.


Die Charts hätte ich jetzt nicht unbedingt in traditionellen Kulturinstitutionen wie dem Theater verortet.

Und wir sind ja nicht nur im Theater präsent, sondern auch im Internet, im Radio, bei Konferenzen und bei Festivals. Insgesamt ist das Interesse an dem Programm gerade auch jüngerer Menschen groß. Und das Maxim-Gorki-Theater Berlin hat bewiesen, dass eine andere Programmatik auch ein anderes Publikum generieren kann. Es ist doch so: Man hat immer erst einmal das Argument des Gewohnheitsrechts auf seiner Seite. Aber die Gesellschaft wird eine andere. Und mein Eindruck ist, dass es ein intellektuelles, politisch aktives, postmigrantisches Publikum gibt, dass die Kulturinstitutionen bislang nicht bedient haben. Und nun ist es an der Zeit.