Karnevalskiller Sessionsstart in der Corona-Pandemie

Eigentlich beginnt am 11.11. in Köln die Karnevalssession. Es ist der Startschuss für drei Monate Ausnahmezustand — mit Sitzungen, Bällen, Partys. Und zum Höhepunkt, im Februar, dann der Rosenmontag mit Umzügen und der Straßenkarneval. Nein, all das soll es diesmal nicht geben! Noch bevor Köln aufgrund der steigenden Infektionszahlen zum Risikogebiet erklärt und die Corona-Schutzmaßnahmen verstärkt wurden, sagte das Kölner Festkomitee den Karneval ab.

Das hat Folgen für Karnevalsvereine, Tourismusbranche und Gastronomie. Und ohnehin bliebt da ja noch die Frage, ob das überhaupt geht: den Karneval absagen.

Wir haben Protagonisten des Kölner Karnevals gefragt, was sie von den jecken Tagen erwarten und wie sie sich fühlen vor einem ­Karneval, der keiner sein soll. Unser Fotograf Thomas Schäkel hat sie an den Schauplätzen des Kölner Karnevals getroffen — umhüllt von einem Schleier, der sie fast unsichtbar werden lässt

»Es findet nichts statt«

Es gibt eine Pandemie, die sogar im Kalender steht. Man kann sich auf sie vorbereiten, Sicherheitsmaßnahmen ergreifen, man kann fliehen — bloß stoppen kann man sie nicht.

Diese Pandemie kommt in zwei Wellen. Die erste schwappt jeweils am 11. November über die Stadt, und das bereits seit Hunderten von Jahren. Die zweite Welle ist stärker noch, und sie dauert auch länger. Sie beginnt rund drei Monate später, im kommenden Jahr am 11. Februar, wie immer an Weiberfastnacht. Bislang war es die Influenza, die sich dann von den Hotspots, den Karnevalshochburgen, ausbreitete — dieses Mal wäre es Corona.
Lange hatten die Karnevalisten überlegt, wie Karneval während einer Pandemie dennoch stattfinden könnte. Noch im Mai zeigte sich das Festkomitee wenig weitsichtig, und man verkündete, »dass es eine Session auch im kommenden Jahr geben muss und wird«.
Das ist längst hinfällig angesichts der steigenden Infektionszahlen. »Wir planen seit Monaten mit unterschiedlichsten Szenarien und versuchen natürlich, die besten Alternativen für alle Beteiligten umzusetzen«, erklärt Anfang Oktober Tanja Holthaus, Sprecherin des Festkomitees. Man müsse aber die Pläne immer wieder den aktuellen Entwicklungen anpassen. »Das Ganze ist vielmehr ein fortlaufender Prozess.«
Bereits am 18. September war dieser Prozess in eine entscheidende Phase getreten. Es war klar, dass auch mit »neuen Formaten« und »kreativen Ideen« der Karneval nicht zu retten sein würde. Bei einem Treffen in der Düsseldorfer Staatskanzlei kamen die Karnevalsfunktionäre der Hochburgen Köln, Düsseldorf, Bonn und Aachen mit Vertretern der Landesregierung darin überein, in NRW sämtliche großen Karnevalsveranstaltungen der Session 2020/2021 abzusagen. Allein karnevalistische Kulturprogramme mit bis zu 150 Besuchern seien möglich, hieß es. Aber karnevalistische Kulturprogramme sind nicht das, was das Gros der Jecken unter Karneval versteht.
Am 7. Oktober verschickt das Festkomitee dann »Corona-Handlungsempfehlungen« an die Karnevalsgesellschaften. In dem 13-seitigen Papier heißt es noch: »Karneval lässt sich in den Hochburgen des Brauchtums schlichtweg nicht verhindern. Er wird im öffentlichen Raum und im Privaten stattfinden — umso mehr, je weniger öffentlich zugängliche Angebote bestehen.« Die Strategie des Fest­komitees zielt darauf, den Karneval durch die Gesell­schaften und Vereine in geordnete Bahnen zu lenken und zu kontrollieren.
Doch seit am 10. Oktober auch Köln die Inzidenzzahl 50 Neuinfektionen innerhalb einer Woche pro 100.000 Einwohner überschritten hat — Tendenz steigend — stehen auch die Kulturprogramme kurz vor dem Aus. Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe sind Veranstaltungen unter besonderen Hygienebedingungen mit weniger als 250 Gästen zulässig, aber das könnte sich bald ändern. 
Mit Blick auf den Straßenkarneval und den Sessionsauftakt am 11. November wurde in der Staatskanzlei Mitte September bereits auch ein Versammlungsverbot und Alkoholverbot im öffentlichen Raum für den 11.11. diskutiert. Durch die Entwicklung der Pan­demie steht das nun bereits fest, und das nicht nur für den kalendarischen Sessionsauftakt, sondern seitdem Köln Risikogebiet ist, Ende offen.
Am 6. Oktober versammelten sich Vertreter der Stadt, des offiziellen Karnevals, der Polizei und der Gastronomie zu einem Runden Tisch mit OB Henriette Reker im Rathaus. Ergebnis: Es soll am 11.11. keine Möglichkeiten geben, auf Straßen und Plätzen zu feiern. Das soll auch dadurch zum Ausdruck gebracht werden, dass es keine mobilen Toiletten und keine Absperrungen geben wird. Dennoch wollen sich Polizei und Ordnungsamt für die Anreise von Karnevalstouristen wappnen. Die Strategie soll bis zum 11.11. immer wieder der aktuellen Lage angepasst werden, heißt es.
Kann aber womöglich die Klassifizierung als Risikogebiet dabei helfen, den Ansturm auf Köln und andere Hochburgen am 11.11. abzuhalten? Derzeit bereitet die Stadt eine Kampagne mit prominenten Karnevalisten vor, die den Karnevalstourismus verhindern soll. Gesundheits- und Ordnungsämter sind ohnehin alarmiert, weil die Corona-Schutzmaßnahmen oft nur noch nachlässig befolgt werden. Polizei und Ordnungsamt mussten zuletzt illegale Partys oder Ansammlungen auflösen, bei denen bewusst gegen die Schutzmaßnahmen verstoßen wurde.
Umso wichtiger ist das Signal, das nun von der Kölner Gastronomie kommt. Die IG Kölner Gastro, Interessenvertretung von derzeit gut 300 gastronomischen Betrieben, hat alle Besitzer der rund 3000 Restaurants, Kneipen und Bars in Köln dazu aufgerufen, am 11.11. zu schließen. Der Aufruf auf den Social-Media-Kanälen findet viel Zuspruch. »Letztlich sind gut 95 Prozent der Gastronomen überzeugt oder konnten überzeugt werden, dass es besser ist, am 11.11. zu schließen«, sagt Daniel Rabe, Sprecher der IG Kölner Gastro. Dass dies zu großen Umsatzeinbußen führe, sieht Rabe nicht, da ohnehin eine coronakonforme Öffnung nur mit begrenzter Gästezahl möglich gewesen wäre. Außerdem würde ein erneuter Shutdown aufgrund weiter­steigender Infektionszahlen die Gastronomie viel stärker treffen, als eine einmalige Schließung am 11.11., so Rabe.
Auch beim Festkomitee unterstützt man es, weithin zu signalisieren, dass am 11.11. in Köln keine Feiern statt­finden werden. »Wir sind uns hier der Verantwortung bewusst, können als Festkomitee aber nur begrenzt Einfluss auf den Straßenkarneval nehmen«, sagt Sprecherin Tanja Holthaus. »Das Festkomitee und seine Gesellschaften werden keinerlei Veranstaltungen durchführen — auch, um eine klares Signal zu setzen: Es findet am 11.11. nichts statt!« Man bitte »dringend alle Jecken, zu Hause zu bleiben und in der Familie oder im kleinen Kreis zu feiern«, sagt Holthaus und verweist darauf, dass der WDR wie gewohnt eine mehrstündige Live-Sendung übertrage — allerdings ohne Publikum.

Text: Bernd Wilberg

 

 

Kontakt­loses Schunkeln

Für die Karnevalsvereine steht in dieser Session viel auf dem Spiel. Sie bangen nicht nur um ihre Zukunft, sondern auch um das Gemeinschaftsgefühl. Wie sich der Sitzungskarneval unter Corona-Bedingungen neu erfindet

Die Karnevalseröffnung fällt aus, zumindest die traditionellen Feste am 11.11. Es soll ein Zeichen sein, so haben es die Verantwortlichen mit Oberbürgermeisterin Henriette Reker vereinbart, dass Karneval in der Pandemie nicht zu verantworten sei, auch nicht mit Abstand, Hygienekonzept und Maske. Viele Sitzungen, Bälle, Partys und Züge wurden auch bereits abgesagt. Andere stehen auf der Kippe. Doch offenbar will gleichzeitig niemand in den großen Vereinen aufhören, zu planen für eine Session, die völlig ungewiss ist.
Die Feiern sind, wenn man so will, der Zweck der Karnevalsgesellschaften. Fallen sie weg, droht das Vereins­leben, sonst beständig wie die Jahreszeiten, zu erlahmen. »Das Letzte, was wir zusammen gemacht haben, war das Fischessen am Aschermittwoch«, sagt Ralf Schlegelmilch. Er ist der Präsident der Willi-Ostermann-Gesellschaft und für den 11.11. am Heumarkt verantwortlich. Der wird nun aufgezeichnet, ohne Publikum. Wie es danach weitergeht? Derzeit befragen sie ihre Mitglieder. Sie alle stünden hinter den Einschränkungen, versichert er. »Aber fröhlich sein muss man auch.« Karnevalssitzungen seien, anders als Meetings im Job, schwer durch eine Videokonferenz zu ersetzen: »Wir reden ja hier über Gefühle.«
Niemand will verantwortlich sein für den nächsten Hotspot. Das beteuern alle Funktionäre und überlegen zugleich, was zu retten ist. Bis zu 500 Teilnehmer waren bis vor kurzem erlaubt. Daran klammerten sich viele, auch im alternativen Sitzungskarneval. 490 Plätze im E-Werk, eine nagelneue Lüftungsanlage, Mundschutz am Platz und kontaktloses Schunkeln mit den Händen auf den Knien: Das Ensemble der Stunksitzung hatte schon einmal ausprobiert, wie sich das anfühlt, mit einer Probesitzung Mitte September. Eine »Mutmachveranstaltung« sei das gewesen, sagt Winni Rau, Akkordeonist von »Köbes Underground« und Sprecher der Stunker. Ein paar Sitzungen mit Best-Of-Sketchen im Januar und Februar waren ihr Ziel, inhaltlich aktualisiert. (Im Klassiker »Schunkeln ist Scheiße« reimt sich »Scheißsession« auf »Tröpcheninfektion«.) Dann stiegen die Infektionen rasant. Die Landesregierung setzte eine neue Obergrenze von 250 Teilnehmern, gültig überall dort, wo die Inzidenzzahl 50 überschreitet. So wie in Köln zuletzt. Das würde sich für die Stunker nicht mehr lohnen. »Es steht alles auf wackeligen Füßen«, sagt Rau.
Die Karnevalsgesellschaften werden zwangsläufig den Blick stärker nach innen richten. Die Roten Funken haben ihre Auftakt-Party am 11.11. im Maritim abgesagt. Die vereinsinterne »Kontrollveranstaltung« am Tag danach soll stattfinden, am gleichen Ort. Der verdiente Funk wird dort zum Oberfunk befördert, Korporale ernannt und goldene Striche auf Uniformen ergänzt. »Für den einen oder anderen ist das wichtig«, sagt Günter Ebert vom Vorstand.
Björn Griesmann, Präsident und Kommandant bei den Blauen Funken, sieht in der Gemeinschaft die eigentliche Aufgabe des Vereins. »Wir haben Mitglieder, die haben sich unsere Wappen tätowieren lassen. Die leben dafür«, sagt er. Sie planen kleiner, »für die, die Sehnsucht haben«.
»Manchmal ist eine Krise eine Chance, wieder näher zusammenzurücken«, sagt Joachim Zöller, Präsident der »Großen von 1823«, die in den vergangenen Jahren das Familienkonzert am 11.11. im Tanzbrunnen organisierte. Den Älteren unter den Mitgliedern seien die Sitzungen ohnehin zu musiklastig gewesen, sagt er. Die Jüngeren träfen die Absagen härter.
Daniel Rabe von der kleinen Südstadt-KG Ponyhof nennt es eine Herausforderung, »mal was Ruhiges zu machen«. Die Ponys haben das Planen vorerst eingestellt: »Auch wenn irgendwo nur 400 Leute mit Hygienekonzept und Abstand zusammenkommen, ist es ja nicht auszuschließen, dass 30 davon anschließend in der Kneipe weiterfeiern.« Deshalb gelte es, die Lust am Feiern hintanzustellen. Rabe erzählt aber von Wander- und Laufgruppen, Kegelabenden, Online-Stammtischen und von den Fotos davon auf Facebook, die derzeit das Vereinsleben in Kleingruppen ausmachten.
Andere halten die Risiken gemeinsamer Veranstaltungen für beherrschbar. »Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in Party-Stimmung kommen«, sagt Günter Ebert von den Roten Funken. Eine »karnevaleske Soiree« schwebt ihm vor, »nicht lauthals mitsingen, aber zusammensein in Uniform oder Kostüm«. Blaue-Funken-Präsident Griesmann sieht eine Chance für »eher besinnliche Abende«. Sitzungen wie »Janz Hösch und unplugged« erfreuten sich mit ihren leiseren Tönen ohnehin wachsender Beliebtheit. Masken an den Tischen kann er sich allerdings nicht vorstellen.
»Tanzen und Mitsingen ist verboten. Nach der Sitzung eng an der Theke stehen und saufen auch«, sagt Stunker Winni Rau. Für viele sei das sicher keine Option und die blieben eben zuhause. Andere teilten dagegen den Wunsch nach einem Zeichen, »dass man sich nicht unterkriegen lässt«. Die Stunksitzung habe immer schon eine identitätsstiftende Funktion gehabt.
Die Session werde wesentlicher, glaubt Wolfgang Oelsner, Pädagoge und Autor mehrerer Bücher zur Karnevalskultur. Auch er sieht in der Gemeinschaft die Kernbotschaft des Fests, das aber mehr zu bieten habe als Rührseligkeit. »Der Karneval zeigt uns: Die Krise ist noch nicht alles«, sagt Oelsner. Und er könne anregen: Der Tod, ausgerechnet, sei immer schon Thema im Karneval gewesen, und sei es auch heute, etwa ganz plakativ, wenn Kasalla singt »Kumm mer lääve/Bevür mer stirve«, oder subtiler, wenn Cat Ballou die Welt still stehen lässt.
Existenzielle Sorgen müssen sich die meisten Karnevalsgesellschaften nicht machen, die Rücklagen scheinen überall auszureichen. Dennoch spüren sie, dass etwas Entscheidendes auf dem Spiel steht. Björn Griesmann von den Blauen Funken nennt es die »einmalige Symbiose« aus Ehrenamtlichen, Gastronomen, Veranstaltern, Musikern und Künstlern, von denen viele um ihre berufliche Zukunft bangen. Über die Jahre seien da Freundschaften entstanden. Auch ihnen fühlt er sich verpflichtet: »Das gerät ins Wanken, wenn wir gar nichts planen«, sagt er und hofft auf Lockerungen bis Januar. Und darauf, dass am Ende irgendeiner der Pläne umgesetzt werden kann.

Text: Philipp Haaser

 

 

Karneval ist eine ernste Sache

Jürgen Becker, Jahrgang 1959, gehörte Anfang der 80er Jahre zu den Gründern der alternativen »Stunksitzung«. Seit den 90er Jahren steht er mit Solo-Programmen als Kabarettist auf den Bühnen, ist Autor ­zahlreicher Bücher und moderiert die TV-Sendung »Mitternachtsspitzen« im WDR.
Infos auf: juergen-becker-kabarettist.de

Machen wir uns nichts vor: Wenn der Karneval ausfällt, gerät der Psycho­haushalt der Stadt Köln schwer durcheinander. Das Oktoberfest in München, das kann man absagen. Das besteht ja nur aus Saufen, Kotzen und Leder­hosen. Aber der Kölner Karneval ist ganz anders. Der hat gar keine Lederhosen.
Vor allem ist der Kölner Karneval sicher. Wer hat denn das Virus hier eingeschleppt? Die Karnevalisten? Klares Nein! In Köln jedenfalls nicht. Das waren die Karnevalsflüchtlinge, die abgehauen sind, zum Skifahren. Nach Ischgl. Die Spaßbremsen, die Funblocker. Wären die alle hier in Köln geblieben und hätten Karneval gefeiert, hätte sich Corona nie ausbreiten können.
Dennoch will unser Gesundheitsminister Jens Spahn den Karneval verbieten. Und er hat gesagt, es würde ihm selbst wehtun. Denn er käme aus einer absoluten Karnevalshochburg. Der kommt aus Ahaus! Karneval im Emsland! Da gibt es in Köln Darmspiegelungen, die sind lustiger.
Dabei könnte man den Karneval ruhig stattfinden lassen. In Sachsen-Anhalt zum Beispiel gibt es kaum Corona-Fälle. Warum feiern wir den rheinischen Karneval denn nicht da? Dann ziehen zum Beispiel alle Kölner für eine Woche nach Magdeburg und feiern. Und die Magdeburger kriegen Miete und ziehen nach Köln, bleiben da eine Woche, machen es sich gemütlich und arbeiten nicht. Das heißt, sie wären von der normalen Kölner Bevölkerung gar nicht zu unterscheiden. Das würde gehen. Oder auch die Kappensitzung in Heinsberg. Damit hat der ganze Corona-Scheiß ja angefangen. Aber die könnte doch auch wieder stattfinden. Man muss die Kappe nur ausnahmsweise nicht auf den Kopf ziehen, sondern davor. Vor Mund und Nase, gehörte das doch schon immer zum Karneval: Masken-Ball.
Außerdem wird im Karneval immer schon Distanz gelebt. Deswegen werden die Kamelle ja auch nicht persönlich übergeben, sondern immer mit Abstand geworfen.
Und der Sitzungskarneval hat sowieso ein unschlag­bares Hygienekonzept, besteht er doch im Wesentlichen aus dem Kölschen Klüngel. Und der hatte als Motto schon immer eine Hygiene-Maßnahme: Eine Hand wäscht die andere!

Jürgen Becker

 

 

Corona killt den Karneval

Erst der Shutdown, nun die Absage der meisten Karnevalsveranstaltungen: Viele Unternehmen sind existenziell bedroht

Karneval ist nicht nur ein »Jeföhl«, sondern ein knallharter Wirt­schaftsfaktor: Laut einer Studie der Unternehmens­bera­tung Boston Consulting Group (BCG) aus dem Jahr 2018, die vom Kölner Festkomitee in Auftrag gegeben wurde, werden von der Sessionseröffnung am 11.11. bis zum Aschermittwoch 631 Mio. Euro umgesetzt. Allein in der Stadt Köln sichert eine Session mehr als 6500 Arbeitsplätze. Besonders profitieren die Gastronomie (257 Mio. Euro), Hotels (63 Mio. Euro), die Textilindustrie (110 Mio. Euro) und die Eventbranche von den Narren. Damit entspricht die Wirtschaftskraft des Kölner Karnevals der jährlichen Wirtschaftsleistung einer deutschen Stadt mit 15.000 Einwohnern. Für die nächsten Jahre wurde ein kontinuierliches Plus prognostiziert, Karneval galt als robuste Wachstumsbranche — bis Anfang des Jahres die Corona-Pandemie die Welt erschütterte.

In diesem Jahr ist Karneval, wie man ihn kennt, abgesagt: keine Karnevalssitzungen der großen Vereine, keine großen Umzüge, keine offiziellen Partys. »Große Menschenansammlungen, schunkeln, singen und Bützchen verteilen, in großer Ausgelassenheit und oft auch mit Alkoholkonsum — all das ist in der Pandemie so nicht denkbar«, sagte Nathanael Liminski, Chef der NRW-Staatskanzlei nach dem »Karnevalsgipfel«, der Mitte September mit den Festkomitees aus Köln, Düsseldorf, Bonn und Aachen stattfand. Kleinere und kreative Kulturformate, die den geltenden Corona-Regeln entsprechen, sollen dagegen möglich sein.
»Die Situation ist für viele Menschen im Karneval existenzbedrohend«, fasst Tanja Holtkamp, Pressesprecherin des Festkomitees Kölner Karneval, zusammen. Es trifft deutlich mehr Menschen, als man zuerst denkt: Gastronomen, Hoteliers, Brauereien, Künstler, Konzertveranstalter, Kostümhersteller, Saalbetreiber, aber auch Techniker, Kellner oder Reinigungspersonal. Auch hunderte Saisonarbeits­kräfte werden ohne Beschäftigung bleiben. »Sollte die Session komplett ausfallen, befürchten wir einen nachhaltigen Schaden für die kulturelle Vielfalt des Karnevals und der Stadt. Das wieder aufzubauen, würde lange dauern«, so Holtkamp.
Einen nachhaltigen Schaden hatte das Gastgewerbe längst erlitten, als noch niemand an die Karnevalssession dachte. Seit März kämpft die Gastronomie mit den Folgen von Lockdown und Schutzmaßnahmen. Trotz politischer Unterstützung, etwa für die Erweiterung der Außengastronomie, kamen die meisten Betriebe auch im Sommer gerade mal auf die Hälfte ihrer Umsätze. Jetzt kommt der Winter. Eigentlich ist der Karneval ein Umsatztreiber für alles, was einen Zapfhahn hat. Diesmal beginnt der Kater schon vor der Session. »Wir haben am Elften Elften geschlossen, da geht kein Weg dran vorbei«, sagt Michael Kampert, Inhaber vom Weißen Holunder. Die Kneipe an der Gladbacher Straße im Belgischen Viertel ist in normalen Jahren eine Karnevalsinstitution. »Es wäre ein Wahnsinn, da irgendwas zu versuchen«, sagt Kampert. Er nennt den Gesundheitsschutz für Mitarbeitende und Gäste, den Image­schaden, falls es zu einem Ausbruch käme. Aber der Kneipier sagt auch: »Wir wollen den Leuten keine Anreize schaffen, nach Köln zu kommen oder feiern zu gehen.« Planungen für die weitere Session verbieten sich ohnehin. An Weiberfastnacht jedenfalls verschwendet Kampert gerade keinen Gedanken. Der Wirt unterstreicht zwar die wirtschaftliche Bedeutung des 11.11. »In erster Linie leben wir aber vom Tagesgeschäft — und das ist ja schon eine Katastrophe.« Ohne weitere Hilfen im Winter sieht Kampert schwarz. »Ich weiß nicht, ob der Holunder das überleben würde. Eigentlich können wir schon jetzt nicht mehr.«
Laut einer Umfrage des Branchenverbands Dehoga sehen sich aktuell 58 Prozent der gastgewerblichen Betriebe in ihrer Existenz bedroht. Die Branche zählt in Köln rund 20.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte und noch mal so viele geringfügig Beschäftigte. »Viel wird davon abhängen, wie die Wintermonate für die Betriebe verlaufen«, sagt Christoph Becker, Dehoga-Geschäftsführer Nordrhein. Eine Karnevalsabsage »betrifft vor allem die Kneipen und die, die vom Sitzungskarneval profitiert haben. Gerade die Umsätze, die an Karneval gemacht werden können, benötigen die Betriebe als Puffer, um durch die wirtschaftlich schwächeren Zeiten zu kommen.« In einem Jahr, in dem der Puffer dringend notwendig wäre, fällt er nun weg. Beziffern kann die Dehoga drohende Umsatzeinbußen zwar nicht. »Die Kneipen profitieren aber natürlich ganz stark vom Straßenkarneval. Im Durchschnitt werden dort rund 30 Prozent mehr Umsatz an den tollen Tagen gemacht«, sagt Becker. Doch auch fehlende Übernachtungsgäste und Raummieten treffen die Branche. »Unabhängig vom Thema Karneval erwarten wir, dass der Staat weitere finanzielle Unterstützung für das Gastgewerbe leistet«, fordert Becker.
Doch im Karneval wird nicht nur gebechert und geschunkelt. Jot Jelunge ist ein alteingesessener Laden für Kostüme und Dekoration an der Lindenstraße. Im nächsten Jahr feiert Besitzer Bernd Sondergeld 25-jähriges Jubiläum. Hier gibt es nicht nur Standard-Verkleidungen, sondern auch historische Roben und Theaterkostüme sowie Kopfbedeckungen, Perücken, Accessoires, Schminke. Individuelle Kostüme werden im angeschlossenen Atelier geschnei­dert. Sondergeld gibt auch Kreativ-Workshops, um alte Kostüme oder Verkleidungen aufzupeppen. »Ich habe mein ganzes Kapital und Herzblut im Jot Jelunge. Sondergeld entwickelt auch Bühnenbilder für Theaterstücke sowie Dekoration von Schaufenstern und Events großer Unternehmen. »Das ist alles komplett weggebrochen. Bei uns geht es um die Wurst.« Sondergeld hofft, dass er dennoch Karnevalskostüme verkaufen und Workshops anbietet kann, zumal er treue Stammkunden habe. »In Kitas, Schulen oder Familien feiern die Menschen ja dennoch und verkleiden sich.« Die Kreativfläche nutzen auch Künstler oder Designer: »Ich sehe die einzige Chance, die Krise gemeinsamm zu überstehen. Es heißt kreativ zu werden und keinen alleine zu lassen. Das können die Kölner.«
Doch nicht nur die kleinen Individualisten, auch die Branchenriesen haben zu kämpfen. So waren die 31 Filialen des Kostümgeschäft Deiters fünf Monate bis zum Ende der Sommerferien geschlossen, alle Mitarbeiter waren in Kurzarbeit. »Wir haben Umsatzeinbußen, je nach Standort und Monat, von 50 bis 80 Prozent. Das sind wirklich schlimme Zahlen«, sagt Geschäftsführer Björn Lindert. Von den 700 Mitarbeitern seien noch keine entlassen worden. »Das wollen wir absolut vermeiden«, so Lindert. Das Unternehmen versucht nun, mit Stadt und Land ins Gespräch zu kommen. Lindert hält es für sinnvoll, den Vereinen eine Planungssicherheit zu geben, damit das Brauchtum eine Zukunft habe. »Man darf nicht die Wirtschaft, die hinter dem Brauchtum steckt, vergessen. Für uns ist bislang keine Hilfe in Sicht.« Die Lager sind dieser Tage voll, Deiters produziert mit langem Vorlauf hunderttausende Kostüme. Viele von ihnen, das steht schon vor dem Sessionsbeginn fest, werden zu Ladenhütern.

Text: Anja Albert, Jan Lüke