»Das System ist gut«: Gerhard A. Wiesmüller plädiert dafür, die Schulen offen zu halten

»Kinder holen den Bildungsrückstand nie mehr auf«

»Kinder holen den Bildungsrückstand nie mehr auf« Gerhard A. Wiesmüller vom Gesundheitsamt fordert langfristige Corona-Maßnahmen

Herr Prof. Wiesmüller, der »Lockdown light« ist seit Anfang November in Kraft. Die Zahl der wöchent­lichen Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner*innen ist in Köln hoch, aber leicht rückläufig. Eine Trendwende? Der Inzidenzwert in Köln sinkt seit mehreren Tagen. Ich halte es aber noch für zu früh, daraus Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der verschärften Corona-Schutzmaßnahmen zu ziehen.


Wieviel Prozent der Kontakte können Sie im Moment nachverfolgen? Und wie stark müsste die Inzidenzzahl sinken, damit das Infektionsgeschehen für sie wieder überschaubar ist? Eine Inzidenzzahl von 50 ist ein Wert, bei dem die Gesundheitsämter noch funktionsfähig sind. Unterhalb von 35 geht das sogar sehr gut. In der Praxis kommt es aber auf die Umstände an. Bei einem nahezu vollständigen Lockdown wie im Frühjahr hatte ein Corona-Fall kaum Kontaktpersonen. Ohne Lockdown sieht das ganz anders aus, und dann kommt man auch bei einer niedrigen Inzidenzzahl ins Schwitzen. Da gibt es keine klare Grenze. Wir haben früh darauf gesetzt, möglichst viele Prozesse im Index- und Kontaktpersonenmanagement zu digitalisieren. Durch diese ständige Prozessoptimierung und die personelle Verstärkung, vor allem durch Studierende und Bundeswehrsoldaten, gelingt es uns, nach wie vor mit Kranken und Kontaktpersonen in der Quarantäne im Kontakt zu bleiben. So können wir bei gesundheitlicher Verschlechterung Notärzte rausschicken und Telemedizin einsetzen.


Wie kann man in einer Großstadt von einer so hohen Inzidenzzahl runterkommen? Es geht ja nicht nur um ein paar große Feiern, das Virus hat sich ja in der Gesellschaft breitgemacht. Feiern sind natürlich ein Spreading-Ereignis. Wichtig ist, dass wir unser Verhalten anpassen. Für mich als Umweltmediziner ist Lüften von Innenräumen ein wichtiges Thema. Wir sollten die Situation nutzen, um zukünftigen Generationen ein gutes Lüftungsverhalten beizubringen. Unabhängig davon würde es helfen, wenn mehr Menschen die Corona-App nutzen würden. Wenn ich darüber Kontakte nachverfolgen kann, muss ich es nicht mehr am Telefon machen.


Können Sie denn in Köln bestimmte Hotspots identifizieren? Die Hotspots, die wir kennen, sind große Feiern und liegen im privaten Bereich. Die Menschen haben festgestellt, dass Quarantäne keinen Spaß macht und entziehen sich ein Stück weit der Kontrolle. Damit werden die Angaben weniger gut. In der ersten Phase der Pandemie konnten sich 20 Prozent der Fälle nicht erinnern, wo sie sich angesteckt hatten. Heute haben wir Tage, an denen sich nur 20 Prozent daran erinnern können. Wir erleben zum Teil auch eine aggressive Haltung, weil die Menschen wissen, was auf sie zukommt.


Ist ein Grund für fehlende Akzeptanz auch, dass Entscheidungen wie der November-Lockdown sehr kurzfristig gefällt werden? Ich glaube, wir bräuchten ein langfristiges Konzept, damit die Menschen wissen, worauf sie sich einstellen müssen. Hätte man ihnen von Anfang an gesagt, wir machen jetzt einen strengen Lockdown bis Weihnachten, dann hätte es eine kurze Phase der Aufregung gegeben und es wäre gut gewesen. So aber regen sich die Leute ständig auf und versuchen, sich den Maßnahmen zu entziehen. Wir brauchen langfristige Maßnahmen und transparente Entscheidungen.


Köln ist die größte Stadt in NRW. Wird das Gesundheitsamt in Beratungen einbezogen? Viele Dinge werden am grünen Tisch entschieden. Da sollte die Praxis mehr berücksichtigt werden. Jede Maßnahme, die wir bisher bekamen, hat für uns mehr Arbeit bedeutet und uns noch mehr belastet — obwohl es ja eigentlich um Entlastung der Gesundheitsämter gehen soll. Und man muss sich vorher genau überlegen: Warum mache ich eine Maßnahme? Man kann nicht Schulen und Kitas schließen in dem Wissen, dass nach dem Lockdown das Virus noch da sein wird. Wenn man den Menschen dann sagt: Jetzt kannst du dein Kind wieder in die Schule oder Kita schicken, bekommen sie Angst.


Wie denken Sie, geht es in den Schulen und Kitas weiter? Ich hoffe für unsere Kinder, dass sie aufbleiben. Wir haben in Köln bis auf eine Berufs­­schule nirgendwo einen Ausbruch in einer Gemeinschaftseinrichtung gehabt. Von Ausbruch sprechen wir, wenn innerhalb des Systems eine Weitergabe des Infektionserregers erfolgt, also zwei weitere Infektionen, die im örtlichen und zeitlichen Zusammenhang stehen. Das heißt, die Weiterverbreitung zwischen den Kindern ist wesentlich weniger bedeutend als etwa bei der Influenza. Auf der anderen Seite sehen wir, wie sehr die Kinder leiden, wenn die Kitas und Schulen zu sind. Die häusliche Gewalt nimmt zu, und Experten sind sich einig, dass einige Kinder den Bildungsrückstand nie wieder aufholen.


Was müsste man denn tun, um das System Schule und Kita sicherer zu machen? Das System ist gut. Dass wir null Infektionen haben, können wir nicht erwarten. Für die vielen Schüler und Lehrer, die wir in Köln haben, ist die Häufigkeit der Infektionen extrem gering. Und wir bemü­hen uns, in der Kontaktnachverfolgung vernünftiges Augenmaß zu halten. Wir sollten aufhören, uns dort Sorgen zu machen. Sorgen macht mir im Moment, dass die Erkrankung wieder vermehrt in Seniorenheimen auftritt. Da sind die Menschen, die ein Risiko haben. Da sterben Menschen.


Prof. Dr. Gerhard A. Wiesmüller ist Leiter der Abteilung Infektions- und Umwelthygiene des Gesundheitsamts der Stadt Köln. Von den rund 800 Mitarbeiter*innen des Amts arbeiten 415 an der Kontaktverfolgung, darunter 94 Soldat*innen der Bundeswehr.