Es könnte alles so schön bleiben: Carrie Coon, Jude Law

»The Nest«

Sean Durkin erzählt vom entgrenzten Kapitalismus als Spukhausgeschichte

Neun Jahre ist es her, da weckte der kanadische Regisseur Sean Durkin gleich zu Beginn seines gefeierten Debüts »Martha Marcy May Marlene« Horror-Erwartungen, nur um sie dann doch nicht zu erfüllen. Schon damals brauchte es nichts wirklich Übersinnliches, aber immerhin eine Sekte, um von der Zwangslage eines Menschen zu erzählen, von seinen schmarotzenden Peinigern und den Restmöglichkeiten von Selbstbehauptung. Die Hölle, das war nicht nur die Gemeinschaft, der Martha entflohen war, sondern auch das Weltbild ihres karrieristischen Schwagers (und ihrer Schwester), bei denen sie Unterschlupf fand. Viel Splatterei war da gar nicht nötig.

Seinen zweiten Film »The Nest« siedelt Durkin im England des Jahres 1986 an, und statt Man­tren einer Sekte geistern hier bloß die marktliberalen Glaubenssätze des sich immer mehr entgrenzenden Kapitalismus durch die Schlaf- und Wohnzimmer. Untermalt vom träge pulsierenden Jazz Richard Reed Parrys und in aufreizend langsamen Zooms entfaltet »The Nest« eine im Grunde sturzbanale Geschichte. Der Unternehmer Rory O’Hara (Jude Law) zieht samt Familie von New York zurück in seine alte Heimat England und mietet dort ein historisches Haus-Ungetüm mit zinnenförmig getrimmter Buchsbaumhecke, als ginge es darum, eine neue Ständegesellschaft zu errichten und sich als Burgherr aufzuführen.

Nicht, dass es den O’Haras in New York an etwas gemangelt hätte. Mit wenigen, eleganten Pinselstrichen zeichnet Durkin anfangs das Bild einer zufriedenen Familie: Rory und seine kluge Frau Allison (Carrie Coon) führen eine Ehe auf Augenhöhe, entspannt frotzeln die Kinder Samantha (Oona Roche) und Benjamin (Charlie Shotwell) vor sich hin, jeder führt sein Leben, abends treffen sich alle zum Abend­brot. Es könnte alles so schön bleiben, da eröffnet Rory seiner Frau, mit ihr und den Kindern nach London ziehen zu wollen, denn in der bald boomenden Metropole »können wir richtig Geld machen«. Mit in Sanftmut gekleideter Gewalt verfügt dieses falsche »Wir« über die Leben dreier Menschen, als seien der Sektenführer und der Karrieristenschwager aus »Martha Marcy May Marlene« in Rory zu einer einzigen und noch dazu sehr alltäglichen Figur verschmolzen.

Jude Law muss nicht die Zähne entblößen wie einst Jack Nicholson, auch wenn die langen Schwenks über dunkle Tapeten und von Funzellicht beleuchtete Gänge vermuten lassen, dass hier alles auf eine ziemlich unangenehme Variante von Stanley Kubricks »Shining« (1980) hinauslaufen wird. Rorys Besessenheit ist unauffälligerer Art. Er ist wohl einfach ein bisschen zu tief in den neoliberalen Zaubertrank gefallen. Gäbe man ihm eine Schreibmaschine wie einst Kubricks Möchtegern-Schriftsteller Jack, würde er »Die Deregulierung wird dämonisiert« in Endlosschleife tippen.

Es ist das Haus selbst, das Rorys Seelenvorgänge — und schließlich die der in Mitleidenschaft gezogenen Familie — ausdrückt und vorantreibt: Türen öffnen sich wie von Geisterhand, Allisons Pferd reagiert auf das neue Domizil mit unerklärlicher Panik. Auch die Kinder haben Angst vor dem Haus. Die Entfremdung vor­einander wächst, das Geld wird knapp. Allison, zurückgeworfen aufs Dasein als trophy wife, mistet bald den Schweinestall des Bauern nebenan aus.

Ihre Vorgeschichten bleiben jedoch unerzählt: »Ich hatte eine beschissene Kindheit« muss als Erklärung dafür reichen, dass aus Rory ein hauptberuflicher Blender geworden ist. In Szenen, die kleinen Monsterkammerspielen gleichen, treibt Durkin den Krieg um die Fragen, was genügt und was zu viel ist, mit unvorhersehbaren Wendungen auf die Spitze. Wenn es letztlich auf die Kunst ankommt, aus einem fast leeren Kühlschrank ein Frühstück für alle zu bereiten, an dem sogar das parasitäre Leistungsträger-Würstchen teilhaben darf, hat dann der Markt gewonnen? Oder die Liebe?

(dto) GB/CDN 2020, R: Sean Durkin,
D: Jude Law, Carrie Coon, Anne Reid, 107 Min.
Start: 23.12.