Abendmahl am Tag: Milo Rau mit Darstellern am Set von »Das Neue Testament«

»Die Unreinheit ist die einzige Quelle der Kunst«

Der Film- und Theaterregisseur Milo Rau über seinen Film »Das Neue Testament«, Christoph Schlingensief und die Debatte um »Cancel Culture«

Herr Rau, Sie machen Theater und Kino inzwischen relativ gleichberech­tigt — es wirkt wie eine Pendelbewegung. In mancher Hinsicht erinnert das an Christoph Schlingensief ...

Der Unterschied liegt in der Bewegung. Schlingensief begann mit Film, dann hat er Theater gemacht, und dann verwandelte sich dieses Theater mehr und mehr in politische Aktionskunst. Bei mir ist es fast umgekehrt: Ich habe mit Aktionskunst begonnen, wurde dann Theatermacher und habe in den letzten Jahren das Kino entdeckt.


Wie kamen Sie zum Kino?

Aus Archivierungszwang. Wir haben zunächst Inszenierungen verfilmt — »Das Neue Evangelium« ist mein erster wirklich selbstständiger und unabhängiger Kinofilm. Das Theater ist da nur eine Krücke, um es auch finanzieren zu können. Was mich an Film interessiert, ist, dass er immer realistisch ist. Theater ist ja nie realistisch, es bleibt immer Illusion und abstrakt.


In welcher Hinsicht ist das Kino realistischer?

Auch Kino ist doch immer »gemacht« und der technische Aufwand ist groß. Die Kamera sieht total. Wenn man einen Film montiert, dann sieht man, dass die Kamera viel aufgezeichnet hat, was man gar nicht realisiert hat.


Wie würden Sie »Das Neue Evangelium« beschreiben?

Einerseits erzählen wir die bekannte Jesus-Geschichte aus dem Neuen Testament, die in zwei Extremformen fürs Kino verfilmt wurde, von Pier Paolo Pasolini, und von Mel Gibson. Allerdings arbeiten wir größtenteils — da ist der Film näher an Pasolini — nicht mit professionellen Schauspielern, sondern mit Afrikanern, die in Süditalien in Lagern leben, teilweise Flüchtlingslager, teilweise Arbeitslager, unter ziemlich prekären Bedingungen. Einige unserer Hauptdarsteller sind Aktivisten. Und schließlich haben wir unsere Drehbedingungen und das Machen in den Film integriert. »Das Neue Evangelium« ist also Spielfilm und Filmessay und sein eigenes Making-Off in einem.


Wieso ein Jesus-Film?

Ich habe die Lager gesehen und daraus die Gesamtkonstruktion entwickelt. Mich interessiert dieses christlich-katholische Grundmotiv: Aus der Zerstörung des Physischen kommt die Erlösung. Diese Geschichte, die wir uns seit zweitausend Jahren erzählen, ist ja absurd. Gott wird zu Fleisch. Jemand muss sterben und im letzten Moment wird er vom Körper wieder zum Geist. Aber dies ist die absolut realistische Urszene dessen, was es heißt, Mensch zu sein. Im Neuen Testament hat die christliche Kultur einen Schlüssel gefunden, mit den ganzen menschlichen Widersprüchen umzugehen, ohne sie zu tilgen. Denn diese Geschichte ist voller Widersprüche, und das gefällt mir. Natürlich kommen dann die Puristen an, in diesem Fall die religiösen Puristen, und erklären: »Das geht gar nicht!«


Widersprüchlichkeit scheint ja derzeit eher nicht gefragt zu sein. Es wird gerade viel über politische Korrektheit in den Künsten diskutiert — die manche als Zensur empfinden, andere feiern sie. Wie stehen Sie zu alldem?

Der puritanische Zensurgeist ist in der bürgerlichen Kultur auf allen Seiten ganz präsent. »Cancel-Kultur« ist kein neues und nur linkes Phänomen — ich wurde seit jeher von rechts, von der Mitte, von liberal, von links mit dem »canceln« konfrontiert.

Was ich komplett ablehne ist, dass man jetzt Vorsicht walten lassen soll als Künstler. Denn man verbessert Menschen nur, indem man sie einem Risiko und Gefahren aussetzt. Man kann keine Geschichte formen, keine Emotionen wecken, wenn nicht irgendwo ein Risiko der Unsicherheit gefunden wird. Das ist tatsächlich eine Gemeinsamkeit mit Schlingensief: Genau diese Vorwürfe, die man heute vielen Künstlern macht, gab es auch gegen Schlingensief. Dann ist er gestorben und jetzt ist er ein Held. Wenn man in Süditalien mit den Arbeitern aus Afrika spricht und sie »people of color« nennt, lachen sie und sagen einem: »Das kannst du in deinen Seminaren in Berlin erzählen, wir sind Schwarze.« Irgendwelche Oberflächen zu be­rei­nigen, das macht überhaupt keinen Sinn für mich. Das Auswechseln von Straßenschildern ist nicht wichtig, wechselt das System aus!


Was sollten wir tun?

Wir sollten beginnen zu verstehen, dass der Mensch ein Mischwesen ist. Das es keine Vollkommenheit gibt, dass die Gesellschaft nicht vollkommen ist. Der Wunsch nach Vollkommenheit ist immer ein Wunschtraum der Feigen und der Opportunisten und der Dummen. Wir leben nicht in einer gerechten Gesellschaft. Man glaubt, wenn man den Namen einer Straße bereinigt hat, dann ist auch das Problem beseitigt. Es ist eine einfache symbolische Befriedigung. Man will eine Gegenmacht moralisch strukturieren, aber unsere Gegenwart ist moralisch verunreinigt. Man muss das zeigen und sich damit konfrontieren. Und die Unreinheit ist die einzige Quelle der Kunst.

Milo Rau

Geboren wurde Rau 1977 in Bern, heute lebt er u.a. in Köln. Er begann als Performancekünstler, schreibt und inszeniert seit 20 Jahren auch auf Theaterbühnen. Seit 2018 ist er Intendant am Niederländischen Theater im belgischen Gent. Seit 2008 dreht Rau auch Filme, so entstanden »Die Moskauer Prozesse«, »Das Kongo-Tribunal« und »Das Neue Evangelium«, die Kölner Koproduktion feierte bei den diesjährigen Filmfestspielen von Venedig Premiere.