Befehl oder Moral? Omar Sy, Virginie Efira

»Bis an die Grenze« von Anne Fontaine

Anne Fontaine zeigt mit ihrem Polizeifilm, wie man populäre Genres geschickt erweitert

Für den französischen Kriminalfilm ist 2020 ein großer Jahrgang — zwei Regisseurinnen und zwei Regisseure haben Werke vorgestellt, um die es noch in Dekaden gehen wird. Ohne Aktualitätszwang sprechen sie von Wesentlichem: Leben und Sterben, Freundschaft und Vertrauensbruch, Liebe und Sex, Gier und Güte — und einmal sogar von Gnade. Wo Nicole Garcias kristallines Noir-Melodram »Amants« über die Undurchschaubarkeit der menschlichen Seele nach seiner Premiere in Venedig wieder auftauchen wird, ist bislang noch nicht klar. Olivier Marchals »Banden von Marseille« und Julien Leclerqs »Erde und Blut« laufen bei Netflix, wo man sie zwar sehen und hören, aber nicht so recht erleben kann — sie sind wirklich fürs Kino gemacht.

Doch immerhin: Der in formaler Hinsicht eigenwilligste des Quartetts, Anne Fontaines auf der Berlinale weitreichend ignorierter »Bis an die Grenze«, wird sogar in den hiesigen Lichtspieltheatern zu sehen sein. Was in doppelter Hinsicht höchst erfreulich ist: Zum einen, weil es endlich mal wieder ein französischer Krimi klassischerer Art auf die deutschen Leinwände schafft, zum anderen, weil Fontaine (»Coco Chanel«, »Gemma Bovery«, »Marvin«) eine der faszinierendsten Gestalten des Gegenwartskinos ist. Die in Luxemburg geborene Regisseurin und Drehbuchautorin macht in jedem Film etwas Anderes. Oft nimmt sie Genres auseinander und baut sie verblüffend neu wieder zusammen. Obwohl sie sich immer wieder allerhand traut, erreicht sie dabei ein großes Publikum.

»Bis an die Grenze« beginnt als ironiegetränkte Darstellung der Dynamik einer Gruppe von Polizistinnen und Polizisten, deren private Eigenarten und intime Verstrickungen in einer Serie eleganter Variationen einiger weniger Momente ihrer Leben dargestellt werden. Zur Mitte hin verwandelt sich Fontaines Film in ein Kammerspiel: Eine Beamtin und zwei Kollegen sollen einen Asylsuchenden abschieben, dem man die politische Verfolgung offenbar nicht glaubt. Sie tun, was sie nicht tun sollen: Sie lesen seine Akte — und kommen zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich einen Menschen in den Tod befördern würden. Also diskutieren sie, ob man etwas dagegen tun kann und wie — und ist man sich überhaupt einig in der Sache? Das Ganze ist nicht einfach, persönliche Neurosen und Ängste werden ins Spiel gebracht, politische Fragen und Prinzipien auf ihre humanistischen Werte untersucht. Fontaine weitet dabei das Genre des Polizeifilms kongenial aus, bzw. vergrößert dessen diskursive Facette massiv: Verhandelt werden Werte, deren Konsequenzen und deren Preis.

(Police) F 2020, R: Anne Fontaine, D: Omar Sy, Virginie Efira, Grégory Gadebois, 99 Min.