Das nö-Theater im Lockdown: »Furcht und Normalität in Zeiten der AfD«, Foto: Nathan Dreessen

Don’t cry, work

Das pandemische Digitaltheater bietet auch Chancen — manchmal

Normalerweise hätte das Kölner nö-Theater in seiner Premiere »Furcht und Normalität in Zeiten der AfD«, geplant für Mai 2020 beim Sommerblut-Festival, rund 100 Zuschauer gehabt. Dann kam der Theater-Lockdown — und das nö-Theater bekam bereits am Premierenabend mehr als siebenmal so viele Clicks. Denn wie die meisten anderen wich das freie Ensemble ins Digitale aus und kreierte seine Aufführung als interaktive Webseite, die sich mit dem Kulturkampf von Rechts — und ganz aktuell mit dem desolaten Zustand der AfD zu Pandemiezeiten beschäftigte. Immer noch ist die Webseite online und wohl eins der erfolgreichsten Streaming-Projekte der Kölner Freien Szene in Pandemiezeiten geworden. Das ist nur ein Beispiel dafür, dass digitales Theater auch Vorteile haben kann — und am Ende des Tages letztlich sogar mehr Leute erreicht als vorher, oder: ganz andere als traditionelle Theaterbesucher.

Diese demokratisch-integrative Erweiterung von Theater im Internet kam auch beim Stück »Damengedeck 2.0« vom weiblichen Regieteam Behrmann/Koch/Mielich zur Geltung (ebenfalls im Rahmen des Sommerblut-Festivals): ein interaktiver Live-Rundgang durch die »Residenz am Dom« schenkte Senior*innen in Zeiten der größten Corona-Abschottung ihre Stimme und den Kontakt mit der Außenwelt zurück. Berührend erzählten die Damen aus ihrem Leben, von Scheidungen, Kanu-Wettkämpfen, fröhlichen und tragischen Erlebnissen. Gemeinsam prosteten sich Zuschauer und Residenz-Bewohnerinnen am Ende zu, mit vorher im Postpaket geschickten Premierensekt: ein großartiges, Gemeinschaft stiftendes Erlebnis und ein regelrecht politischer Akt.

»Eine alte Welt endet, eine neue beginnt«, schreibt die Game-Designerin Christiane Hütter auf weltuebergang.net, eine experimentierfreudige Plattform für »digitale und hybride Kunstformate«. Sie will einen Austausch von Künstlern, Programmierern und Kulturinstitutionen ermöglichen, um »Menschen zu helfen, sich nahe zu kommen, auch wenn sie sich nicht physisch treffen können«. »Uns fehlten im Theaterlockdown Erlebnis, Austausch und Gemeinschaft — und weltuebergang.net erforscht, wie sich Kulturorte der sozialen Zusammenkunft im Internet herstellen lassen«, erzählt in ihrer Berliner Wohnung die hochschwangere Christina Hütter, die ich in Corona-Zeiten sonst — da im Mutterschutz — auch nicht einfach so analog treffen könnte.

Wie finden wir zusammen, wenn Orte der Zusammenkunft geschlossen sind, wie kann überhaupt das neu erworbene künstlerische Digital-Wissen geteilt werden, wie Theater weiterentwickelt werden, wenn es im analogen Raum gar nicht mehr möglich ist? Wegweisend war während der hektischen Streaming-Monate von März bis Juli da so einiges. Im »Dekalog« vom Schauspielhaus Zürich durften die Zuschauer etwa live chattend mit über die Handlung entscheiden, im Wiener Burgtheater erfanden sie per Twitter sogar gemeinsam ein neues Stück. Bei der Gruppe »Macchina Ex« konnten sie live ein Computerspiel mitspielen. Auch das Format »Home Walk« des Kölner Künstlerkollektivs Pulk.Fiktion hatte das Zeug zu einer digital-interaktiven und ungemein tröstlichen Wahrnehmungserweiterung, die das analoge Theatererlebnis bei weitem überstieg: Als telefonischer Audiowalk durch die eigene Wohnung, parallel geschaltet zu einem anderen Wohungszuschauer, live moderiert durch den Performer, konnte man dem eigenen »Wohnanien« völlig neue Aspekte abgewinnen. Spätestens, wenn man mit Zahnpasta im Gesicht auf dem eigenen Badezimmerboden lag und dem Atmen des Mitspielers lauschte, entstand da eine spannende Fantasiereise im Kopf, die zugleich Kontaktaufnahme mit fremden Welten war. Ziemlich spannend in der Zeit des Daheimbleibenmüssens.

Das Publikumspotenzial für solche interaktiven digitalen Theaterformate wäre riesig — immerhin die Gamesindustrie ist heute definitiv die größte Kultur- und Kreativbranche der Welt, auch weil sie natürlich ganz andere Werbebudgets zur Verfügung hat als Theater. »Welche Art von Auseinandersetzung mit der Welt brauchen wir?«, fragt Christiane Hütter. »Theater wollen sich mehr und mehr für gesellschaftliche Themen und Publikum öffnen — im Digitalen haben sie eine einmalig Chance dazu. Jetzt wäre der Moment, um zu überlegen: Wie könnte man Theater in echte Labore für gesellschaftliche Fragen umwidmen?«

»Postpandemisches Theater« wird die digitale Neuerfindung des Theaters nun seit einigen Wochen genannt, auch wenn der Begriff mitten in der Pandemie sicherlich nicht ganz passt. Trotzdem kann man in der Textsammlung »Netztheater« der Böll-Stiftung spannende Konzepte nachlesen — und hören, denn auch im Internet stehen immer noch öffentliche Diskussionsveranstaltungen und Thinktank-Treffen online.

Es würde auch der Kölner Szene gut zu Gesicht stehen: nicht jammern, sondern weiterforschen. Es gibt sogar Geld dafür, Programme wie »Take Notes« oder »Cheers for fears« haben große Töpfe für die digitale Weiterentwicklung von Theatern und Theaterkünstlern bereitgestellt. Es geht um nichts weniger als um die Neuerfindung des Theaters, um eine Neudefinition von Gemeinschaft, Zusammenkunft, Interaktivität und Immersion.