Chronistin des Exils: Nadeschda Mandelstam

Nachgelassenes aus dem Exil

Nadeschda Mandelstam erzählt vom Überleben in der stalinistischen Isolation

»Das Wolfshund-Jahrhundert, es springt auf mich los/Doch ich bin nicht von wölfischem Blut«, heißt es in »Wolf« des russischen Lyrikers Ossip Mandelstam, einem »wenig gelungenen Gedicht«, wie seine Frau Nadeschda in ihren Erinnerungen schreibt. Dennoch hat das Gedicht sie zum Titel zu ihren Memoiren inspiriert, die nun in neuer Übersetzung erstmals vollständig auf Deutsch vorliegen: »Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe«.

Nadeschda und Ossip Mandelstam sind nicht von »wölfischem Blut«, vielmehr leben sie in einer Welt der Kunst und Poesie, in die schnell nach ihrem Kennenlernen 1919 die Wölfe eingedrungen sind: der staatliche Terror Stalins auf der einen, die Bedrohung durch den zunehmenden Antisemitismus auf der anderen Seite. »In den Jahren des Terrors gab es kein Haus«, heißt es in ihrem Erinnerungsbuch, »dessen Bewohner nicht zitternd dem Rauschen der vorbeifahrenden Automobile oder dem Lärmen des Fahrstuhls lauschten.«

Nadeschda Jakowlena Mandelstam wurde 1899 in eine jüdische Familie geboren, studierte Kunst, heiratete 1921 Ossip Mandelstam und ging mit ihm 1934 nach seinem Spottgedicht auf Stalin in die Verbannung nach Woronesch. »Isolieren, aber erhalten« war das Prinzip der Machthaber im Falle des prominenten Mandelstam. In der weitab der kulturellen und politischen Zentren gelegenen Stadt im Süden Russlands lebte das Ehepaar in Armut und überlebte nur Dank enger Freunde. 1938 wurde Ossip Mandelstam erneut verhaftet und starb im gleichen Jahr in einem Durchgangslager.

Diese Jahre stehen im Mittelpunkt von »Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe«. Nadeschda Mandelstam erzählt vom zunehmenden Terror, von Ängsten, der Psychose und den Selbstmordversuchen ihres Mannes, aber auch von Solidarität und dem Festhalten an der Kunst. Sie selbst lernte die Gedichte ihres Mannes auswendig, damit diese überleben würden, falls ihr Mann stirbt und seine Manuskripte vernichtet würden.

In kurzen Kapiteln wechseln sich Erinnerungen an ihren Mann mit Reflexionen über Kunst und Politik ab, kommen zahlreiche Begegnungen und Gespräche mit Freunden und Kollegen zur Sprache, über denen zunehmend die Angst schwebt, durch einen dummen Zufall dem politischen System zum Opfer zu fallen: »Die Mitarbeiter

des Geheimdienstes wussten nicht einmal mehr, welchen Beruf der, den sie verhaften sollten, ausübte.« Verfasst hat Nadeschda Mandelstam ihre Erinnerungen in den Sechzigern, gestorben ist sie 1980. Ihr Werk gilt heute als wichtiger Beitrag zum Verständnis Russlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es zeigt aber vor allem den Kampf zweier Menschen für die Poesie, während um sie herum die Welt in die Brüche geht.

Nadeschda Mandelstam: »Erinnerungen an das Jahrhundert der Wölfe«, Die Andere Bibliothek, 792 S., 44 Euro