Endlich kein Magendarm mehr

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 226

Der neuartige Shutdown beschert nicht nur Verdruss, sondern auch eine Ausrede, nicht an Weihnachten und Silvester teilzunehmen. Selbst das Wichteln bei Gesine Stabroths bester Freundin Tine muss ich nicht absagen! Damals, als Corona noch ein blödes Bier und nicht zum Virus mutiert war, musste ich immer lügen und dann doch reinen Tisch machen. Rief Gesine Stabroth an, um mir die Wichtel-Einladung zu überbringen, lief dieses Ritual stets auf den Höhepunkt zu: »Okay, ich hab nicht Magendarm, ich hab keine Lust auf den Quatsch. Jetzt ist es raus!« Worte können Fernzünder sein. Irgendwas explodierte dann mit ohrenbetäubendem Schweigen am anderen Ende der Telefonleitung, die zur Zündschnur geworden war. Die subsonischen Detonationswellen spürte ich noch nach Neujahr. »Du wirst eingeladen und kommst nicht, schäm dich!« So hieß es, als ich Gesine Stabroth fragte, ob sie die Brotdose mit dem Aufdruck »Für alle Felle — Streichelzoo Niedersimten« selbst gekauft habe? Und ob da Meerschweinchenbrötchen oder gar Ham(ster)burger reinkommen? Doch ein Witz kann noch so brillant sein, nicht immer vermag er die Kluft zuzuschütten, die eine bescheuerte Idee von Tine zwischen zwei Menschen entstehen ließ.  

Das Gute ist, dass man nicht digital wichteln kann. Aber womög­lich arbeiten sie daran. Sie versuchen ja immer, die schlimmen Sachen besser zu machen, statt sie abzuschaffen. Warum gibt es sonst immer neue Tofuschnitzel?

Sich nicht mehr in echt zu treffen, sondern nur digital, sei fürchterlich, hört man. Aber hat sich so viel geändert? Die meisten erschrecken schon, wenn man sie anruft, statt eine SMS zu schreiben. Überhaupt sagen die Menschen nun oft, dass sie sich nach sozialen Kontakte sehnten. Ich finde, in »soziale Kontakte« steckt schon das ganze Elend, so wie in »Partner« und »Beziehung«. Womöglich sehnen wir uns nicht nach Nähe, sondern nach Masse und Event. Als ich das Gesine Stabroth sagte, war das wieder eine Fernzündung. Wir verstän­digen uns nur noch mittels Explosionen, so wie man früher mit Rauchzeichen Nachrichten übermittelte. Man kann auch sagen: Unsere soziale Partnerschaft steht vor neuen Herausforderungen.

Aber nicht nur die »sozialen Kontakte« fehlen, sondern Kultur. Aber vielleicht ist es weniger Kultur als Event, was fehlt: der Sekt im Foyer, das Bier mit Atze und Pit vor der Clubtür. Vielleicht fehlt auch einfach die Ablenkung von sich selbst. Ich gehe ja nicht nur Gesine Stabroth auf den Wecker, sondern auch mir selbst. Da wurde mir trübe im Gemüt, und da spazierte ich im Niesel über Wiesen und Wege, doch es war noch nicht mal ein Park, sondern bloß eine »Grünan­lage«, die mit ihren sinnlos geschwungenen »Wegebeziehungen« lebendig erscheinen sollte. Ich dachte, unser Geflecht aus »Kontakten« ist wie diese Grünanlage oder wie ein Englischer Landschaftsgarten. Der Barockgarten, gegen den er sich absetzt, ist ein Bekenntnis zur Künstlichkeit. Der Englische Garten hingegen wirkt echt und naturwüchsig und ist doch ebenso Inszenierung. In den Englischen Gärten siedelte man Schmuckeremiten an, Menschen, die gegen ein Salär dort das Leben eines Einsiedlers zu führen hatten. Das sollte die Natürlichkeit irgendwie steigern. Wir sind wie diese Schmuckeremiten: Wir leben in einer Künstlichkeit und sollen uns natürlich verhalten. Wir sagen, dass wir uns nach Kontakten sehnen, aber schon ein albernes Weihnachtswichteln halten wir nicht aus. Wir leben längst in einem Shutdown, ohne es zu merken. Dann kommt die SMS von Gesine Stabroths bester Freundin Tine: »Hey, Leute! Ich hab’ ’ne Idee. Wir schicken uns die Wichtelscheiße per Post zu und öffnen sie dann im Zoom-Meeting! Seid ihr dabei?«