Verblüffend modern: Hohe Straße 1912

Koloriert, aber nicht schöngefärbt

Mit seiner Dokumentation über das Köln vom Ende der Kaiserzeit bis zum Ende der ­Weimarer Republik geht Herrmann Rheindorf neue Wege

Menschenansammlung auf der Hohe Straße: Eine dunkelhaarige Frau und ein junger Mann mit kantigen Zügen starren in die Kamera. Sein Gesicht wirkt verblüffend modern — die Szene stammt aus dem Jahr 1912. Die Passanten kommen dem heutigen Zuschauer nah, weil ihre Gesichter Farbe haben. Individuen, Typen stechen ins Auge. Der Vergleich mit der schwarzweißen Originalaufnahme zeigt, dass jetzt auch Gesichter im Hintergrund klarer zu erkennen sind, Details wie farbige Kragen, Hutbänder oder ein Pferdegeschirr treten stärker hervor. Alles wirkt plastischer, lebendiger, eröffnet eine neue Perspektive auf diese Zeit zwischen 1896 und Anfang der 30er Jahre, die wir vor allem aus schwarzweißen Foto- und Filmbildern kennen. Aus dieser Zeitspanne stammen die Aufnahmen, die Hermann Rheindorf zu »Das alte Köln in Farbe« zusammengefügt hat.

Ein »Pionierprojekt« sei der Film für ihn, sagt Rheindorf, weil er erstmals Material nachkoloriert habe. »Das Ziel war eine natürliche Farbgebung, die nicht von den Inhalten ablenkt, sondern die Geschichten unterstützt.« Der Kölner Krätzchensänger und Komponist Ludwig Sebus, Jahrgang 1925, der das alte Köln aus eigener Anschauung kennt, hat Rheindorf bescheinigt, dass die dezenten und gedeckten Farben zur damaligen Zeit passen.

Seit zwanzig Jahren beschäftigt sich Rheindorf mit der Geschichte Kölns im Film, sucht in Archiven weltweit nach Originalaufnahmen, von London über Brüssel und die Niederlande bis Washington, wertet Werbefilme der Industrie und Tourismusbranche aus, sichtet Material von Hobbyfilmern, das oft jahrzehntelang in Kellern verstaut war. Mit abendfüllenden Dokumentationen wie dem Mehrteiler »Köln im Dritten Reich« oder den Filmreisen in die Kölner Sportgeschichte hat er sich einen Namen als Köln-Experte gemacht. Dreißig Filme gehen auf sein Konto. Vor Corona hat er sie regelmäßig an der Volksbühne am Rudolfplatz in der Reihe »Altstadtkino« vorgeführt.

Für jede Dokumentation recherchiert er in Jahrbüchern, Statistiken, Zeitungsarchiven, wälzt Fachbücher und Dissertationen. Er wolle sowohl Neu-Kölner als auch Alteingesessene unterhalten und überraschen, sagt er. Wichtig sei ihm, nicht nur Anekdoten zu erzählen, sondern auch die Kontraste innerhalb der Stadt zu zeigen und die wunden Punkte.

Auch in der neuen Dokumentation glänzt Köln nicht nur als aufstrebende Messe-, Sport- und Handelsmetropole, trotzt mit seiner rheinischen Mentalität Kaiser- und Preußentum, sondern offenbart auch Elendsquartiere und soziale Ungleichheit. En passant bekommt der Zuschauer Wissenswertes geliefert: etwa über das »Schicksal« des Vater-Rhein-Brunnens oder über die Lebensumstände der ersten schwarzen Familie in Köln. Es gibt eine Menge zu entdecken, darunter einen ausführlichen Rundgang durch die alte Altstadt sowie eine speerbewehrte Amazonen-Skulptur, die einst auf dem Friesenplatz auf die Vorbeihastenden zielte.

Ein Jahr Vorbereitung und drei Monate Produktion stecken in dem Projekt, Abende und Wochenenden inklusive, sagt Rheindorf. Fünf Experten haben daran mitgewirkt.

Das Original-Filmmaterial wurde eingescannt und digitalisiert. Die einzelnen Bilder der Schwarzweißfilme wurden behutsam restauriert, Schimmelflecken so gut wie möglich entfernt. Auch an den Kontrasten, der Helligkeit und den Graustufen wurde gefeilt. Filme aus ver­schiedenen Quellen mussten qualitativ auf einen Nenner gebracht, Geschwin­digkei­tsunterschiede angepasst werden. Er habe den Film zuerst in Schwarzweiß fertiggestellt, erklärt Rheindorf, und dann Kapitel für Kapitel koloriert. Dazu wurde das Material auf einen eigens dafür gebauten Großrechner mit 40 Kernen und einer KI zur Mustererkennung überspielt. Für die automatische Kolorierung von etwa zehn Minuten Rohmaterial Film, das aus ca. 15.000 Einzel­bildern besteht, braucht dieser etwa dreißig Stunden. »Unser vorselektiertes Rohmaterial bestand aus etwa 150 Minuten, aus denen dann der neunzigminütige Film wurde«, so Rheindorf. Nach der automatischen Kolorierung muss jedes Einzelbild im Restaurierungs­programm noch händisch nach­bearbeitet und nachkoloriert ­werden.

Damit der Aufwand lohnt, will Rheindorf die Kolorierung als Dienstleistung anbieten. Für ihn ein Zukunftsmarkt, nicht nur weil kolorierte Dokumentarfilme im Trend liegen — siehe Peter Jacksons Kritiker- und Publikumserfolg »They Shall Not Grow Old«. »Da Filmmaterial in Schwarzweiß sich aufgrund seiner chemischen Eigenschaften länger hält, wird Filmen zur Archivierung oft die Farbe entzogen, um sie später wieder hinzuzufügen«, sagt Rheindorf.

Viel Arbeit steckt auch im Sounddesign des Films. Stra­ßenlärm, Hufgetrappel oder das Schwappen von Wellen hat Rheindorf aus seinem Audioarchiv ausgesucht und manuell eingefügt, als Musik die Rheinische Sinfonie von Robert Schumann unterlegt. Für ihn ist ein besonderer Glücksfall, dass er den in Köln aufgewachsenen Christian Brückner als Sprecher für die Off-Kommentare gewinnen konnte. Bekannt ist er vor allem als deutsche Synchron­stimme Robert de Niros — und so weht auch ein Hauch von New York durch die Gassen des alten Kölns.

Im Buch- oder DVD-Handel oder bei koelndvd.de als DVD, VoD, Download