Zukunftskino

Das Kino der Zukunft zu denken, heißt es zu musealisieren. Ein Plädoyer von Lars Henrik Gass

Der Kinobesuch in Deutschland ist seit seinem Zenit vor gut sechzig Jahren von rund 800 Millionen Eintritten auf 121 Millionen im Jahr 2016 zurückgefallen, acht Millionen weniger im Zeitraum 2011 bis 2016. Allein 2018 fielen die Eintritte nochmals um fast 20 Millionen und der Umsatz um 100 Millionen Euro. Nach einer kurzfristigen Erholung 2019 dürfte das Jahr 2020 neue Maßstäbe nach unten setzen. Das Publikum wird immer älter; die Publikumsanteile unter Mitte Dreißig sind zweistellig geschrumpft. Zugleich ist Netflix von 16 Millionen Abonnements im Jahr 2010 nun bei fast 200 Millionen weltweit angekommen. Das klingt nicht nach großer Zukunft oder überlebensfähigem Geschäftsmodell des Kinos. Man kann jetzt an Krise glauben oder die Historisierung des Kinos zur Kenntnis nehmen.

Kino steht im gesellschaftlichen Abseits. Gerade einmal fünf Filmmuseen kümmern sich in Deutschland um 120 Jahre Filmgeschichte, während sich jede Großstadt mindestens ein Theater, ein Konzerthaus, ein Museum leistet, die Stadt Köln gleich mehrere davon, Nordrhein-Westfalen allein über hundert Museen für zeitgenössische Kunst. Von »Kinokultur« dagegen ist in diesem Land nur die Rede, wenn’s ins Geschäft passt.

»Es gibt zwar eine Theorie des Films, aber eine Theorie des Kinos gibt es nicht«, schrieb Karsten Witte 1972 zur Einleitung seiner längst vergriffenen Textsammlung »Theorie des Kinos«. Ermutigt durch Nouvelle Vague, Cahiers du cinéma und das Beispiel der Cinémathèque française versuchte man in Deutschland Ende der 60er Jahre Kino als eigenständige mediale Realität unter den Künsten zu behaupten. Das Kommunale Kino in Frankfurt am Main sollte Kino vom Markt nehmen, also Filmgeschichte ohne Konzession an Wirtschaftlichkeit vertreten, durch die Stadt und für die Stadt, erstmals auch architektonisch gleichberechtigt neben anderen Künsten am Museumsufer. Dies bleibt eine bis heute einzigartige kulturpolitische Leistung des Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann, der seine Entscheidung 1972 noch gegen die Kinowirtschaft vor Gericht hatte durchsetzen müssen. Dabei blieb das, was am Kino Kunstgeschmack und Bildungswerten nicht genügen kann, immer Hindernis des Anliegens. Kino ist in der bürgerlichen Kultur nicht angekommen, auch wenn man einmal im Jahr große Welt auf den Berlinale-Teppich bringen will.

Die mangelnde Akzeptanz von Kinokultur in Deutschland ist vor allem darin begründet, dass Kino im öffentlichen Raum nicht von gewerblichen Interessen und Funktionszusammenhängen anderer Kultursparten freigestellt wurde. Man hat Kinos entweder in die Keller von Museen verbannt oder sie unter Investorenarchitektur vergraben. Kino wurde im Nachkriegsdeutschland niemals als Kulturbau betrachtet, wie ein Museum, eine Philharmonie oder ein Theater. Von den Kommunalen Kinos bleibt uns heute ein Verband, aber keine Realität.

Kino ist eine genuine kulturelle Praxis, die aus dem Bildträger Film sowie dessen Reproduktion und Vorführung besteht, also ein sozialer Raum und eine apparative Ereignis- und Wahrnehmungsform, die Generationen, die mit Internet aufwachsen, kaum noch vermittelbar ist. Das Filmmuseum in Frankfurt bleibt einer der wenigen halbwegs gelungenen Versuche in unserem filmkulturellen Entwicklungsland, der Gesellschaft eine Film- und Mediengeschichte vor Augen zu führen, die sie wesentlich prägt, wesentlicher jedenfalls als das Festspielhaus in Bayreuth, das dem Bund gerade 84,7 Millionen Euro für eine Sanierung wert war. Die öffentlichen Haushalte stellten zuletzt 3,5 Milliarden Euro jährlich allein für Theater und Musik zur Verfügung, Errichtung und Sanierung von Kulturbauten nicht eingerechnet. Kino hat bislang kaum irgendwo eine konsequente Umsetzung erfahren, die seiner mediengeschichtlichen Besonderheit entspricht und bleibt ein weitgehend uneingelöstes Versprechen.

Daher müsste für das Kino als kulturelle Praxis ein antizyklischer, nämlich kulturpolitischer Steuerungsprozess eingeleitet werden mit dem Ziel, ein Kino der Zukunft zu gestalten, das weder kitschige Reproduktion von vergangenem Glanz noch Fortschreibung veralteter Geschäftsmodelle ist. Kinoarchitektur war immer Ausdruck seines Gewerbes, das gerade erkennbar an sein Ende gelangt.

Kulturpolitik steht also vor der Frage, wie sie mit dem Ende der gewerblichen Auswertung von Film im Kino umgehen möchte. Wie üblich gestaltet Kulturpolitik nicht, sondern wird von Lobbyisten gestaltet, die ihr Geschäft unter Kulturschutz gestellt sehen möchten. Die Denkfaulheit in den Kulturverwaltungen ist ebenso erschreckend wie ernüchternd. Dabei müsste jetzt gehandelt werden, denn viele Filmfestivals, die Filmkultur und Filmgeschichte öffentlich sichtbar halten, seit das Fernsehen seinen Kulturauftrag im Sinne des Mehrheitsgeschmacks ausdeutet, finden in Städten schon kaum mehr geeignete Kinos vor, geschweige denn welche mit analoger Projektionstechnik. Technik und Handwerk gehen verloren. Kulturpolitik müsste also einen Prozess einleiten, der für andere Künste schon zu einer Zeit exem­plarisch begonnen wurde, als Kino gerade entstand, und dessen Ergebnisse wir als gesellschaftlichen Konsens betrachten.

Ein Kino der Zukunft muss andere Aufgaben leisten und andere Formen annehmen. Kinos, die sich konsequent Filmgeschichte und Filmkunst widmen, müssten künftig in kommunaler Trägerschaft unterhalten werden, zumindest in Großstädten. Freie Träger sind mit der Rettung der kulturellen Praxis Kino im 21. Jahrhundert vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung heillos überfordert. Kino müsste nicht irgendwie und irgendwo, sondern auf dem Niveau progressiver Kulturbauten realisiert werden, um urbanen Gesellschaften noch ein plausibles Kulturangebot mit Aufenthaltsqualität zu machen. Überdies müsste Kino in einem Strukturwandel unterstützt werden, der auch Streamingangebote umfassen könnte, also die Ausweitung des Rollenbilds; Kinos könnten so auch zu digitalen Leinwänden werden.

Ein Kino der Zukunft müsste also die mediengeschichtliche Besonderheit des Kinos einlösen und zugleich ganz neuartige Auf­gaben lösen: ein Publikum über die Qualität der Architektur, der Gastro­nomie, der Arbeitsmöglichkeiten, der Partizipation erreichen, den Gegensatz zwischen digitaler und analoger Welt, zwischen Rezeption und Produktion nicht antagonistisch verstehen, sondern kreativ. Im gesellschaftlichen Bedeutungsverlust des Kinos, das in seiner Geschichte grotesken Ausgestaltungen gewerblicher Interessen unterlag, ist ein Momentum für seine Neuentdeckung als kulturelle Praxis entstanden. Erst der Prozess der Historisierung rückt die Möglichkeit eines geregelten Rückbaus und der Musealisierung des Kinos ins Bewusstsein. Kino als kulturelle Praxis der Zukunft neu zu denken, könnte also bedeuten, Kulturbauten als einen intelligenten Beitrag zur urbanen Entwicklung oder zu nachhaltiger Klimaarchitektur zu verstehen, auch als Antwort auf Innenstädte, die durch Ketten­gastronomie und Lieferdienste veröden.

Ein Kino der Zukunft müsste auf gesellschaftliche Veränderungen der Arbeits- und Freizeitgesellschaft antworten (Kino on Demand, Video on Demand, Co-Working-Spaces usw.) sowie die Verbindung zu den Film verwandten Künsten in geeigneten räumlichen Verhältnissen neu entdecken (Theater, Performance, Expanded Cinema usw.). Kurz, man müsste Kino als Kulturbau ästhetisch, architektonisch, sozial, technologisch und städteplanerisch neu denken und damit auch als einen lebendigen Bestandteil einer sozialen Stadt, in der die Kulturbauten anderer Kultursparten gerade wie Denkmäler einer Gesellschaft anmuten, die allmählich untergeht. Während André Malraux noch über einen Kulturbau der Zukunft nachgedacht hatte, der in Paris ein Centre Pompidou hervorbrachte, kommt man hierzulande in der Vergangenheit an und bringt ein Stadtschloss in Berlin hervor.

Lars Henrik Gass ist Leiter der Inter­natio­nalen Kurzfilmtage Oberhausen sowie Autor der Bücher »Film und Kunst nach dem Kino« (2012/2017) und »Filmgeschichte als Kinogeschichte. Eine kleine Theorie des Kinos« (2019).