Präziser Blick auf Transgressionen: Emanuelle Bayamack-Tam, Foto: Hélène Bamberger/Opale

Liebe hinter der Haustür

Emanuelle Bayamack-Tam schildert in ihrem Roman "Arkadien" das Innenleben einer Kommune

Das Interessanteste an dem, was man früher vielleicht einmal »alternative Wohnzusammenhänge« genannt hat, sind die sozialen Interaktionen der Bewohner*innen. Das ist auch im Liberty House, dem »Arkadien« aus Emanuelle Bayamack-Tams gleichnamigen zwölften Roman, nicht anders.

In einem alten Mädcheninternat leben Farah, ihr legasthenischer Vater, der nur Blumen sprechen lässt, sowie seine hypersensible Frau, die auf der Flucht vor Elektrosmog Zuflucht gefunden hat. Fahras Großmutter wiederum kann dort ihre nudistische Neigung ungestört ausleben, was weder die reiche Mäzenin des Liberty House stört noch die ehemalige Internatsschülerin, die jetzt für den Haushalt zuständig ist. Sie teilen sich den Ort mit Daniel, einem asexuell-androgynen Schluffi und dem vulgären Victor, der offizielle Liebhaber des Kommunengründers Arkady, dessen Polyamorie ein offenes Geheim­nis ist. »Amor vincit omnia« — Liebe siegt über alles — hat dieser zwischen den Schultern tätowiert. Für diese Liebe ist auch die Hauptfigur des Romans anfällig: die 15-jährige Farah, deren — ebenfalls nicht sonderlich geheimer — Schwarm Arkady ist.

Rückblick auf das Kommunenleben

Mit Abstand von einem halben Jahrzehnt schaut Farah zu Beginn von »Arkadien« auf ihre Zeit in der Kommune zurück. Das verschafft ihr die Distanz, um das Erlebte zu beschreiben. Emanuelle Bayamack-Tam verleiht ihrer Hauptfigur eine Erzählstimme, die die Pubertät in der Kommune unbekümmert und ironisch schildert. Durch diesen erzählerischen Kniff gelingt es der Autorin vor Ereignissen zu berichten, die für die meisten Menschen eine Grenzverletzung darstellen dürften.

Bei Farah wird das Küster-Hauser-Syndrom diagnostiziert: Sie hat eine Vulva, aber nur eine kleine Vagina und keine Gebärmutter. Zudem vermännlicht sie. »Das ist meine Krankheit«, erzählt Farah. »Sie mag selten sein, aber sie macht mich voll und ganz aus.« »Man darf der Normalitat niemals trauen, Farah«, sagt Arkady zu ihr und hat schließlich Sex mit der 15-Jährigen. Das gibt Farah Selbstvertrauen, um sich später Arkadys Gemeinschaft zu widersetzen. Als sich das Liberty House vor Geflüchteten verschanzt, kehrt ihm Farah den Rücken. Weil ihre Liebe nicht an der Haustür endet.

Emanuelle Bayamack-Tam: »Arkadien«,
Secession, 392 Seiten, 28 Euro