Der Bruch, die Freiheit

Was geschah am 20. und 21. Dezember 1960 in den Jazz-Studios New Yorks?

Das ist keine Corona-Geschichte, sondern etwas, was noch unerheblicher ist. Es geht um zwei Tage im Jazz-Geschehen des Jahres 1960, zwei Tage, an denen sich der kreative Wahnsinn dieses Jahres noch mal verdichtete. Diese zwei Tage sind mit einem Schlagwort und mehreren Namen verbunden, die bis heute den Jazz prägen. Man kann das ein Geschichtszeichen nennen: ein Ereignis oder vielmehr: eine plötzliche Verdichtung von Ereignissen, die blitzartig eine ganze Epoche erhellen. Geschichtszeichen erinnern uns daran, dass die Ge­­schich­te der Menschheit in Sprüngen, »Revolutionen«, voranschreitet. Und dass die zähe, klebrige, toxische Brühe, in der wir aktuell stecken und deren Verursacherin übrigens nicht das Virus ist (es ist »nur« der Katalysator der Krise), kein Dauerzustand sein wird. Der nächste Sprung kommt bestimmt. Die Kunst besteht darin, dies zu begreifen. Vielleicht erweist sich dieser Rückblick doch nicht als so unerheblich.

Worum geht es? Am 20. Dezember 1960 nimmt Eric Dolphy in einem New Yorker Studio von Atlantic Records an der Einspielung von Gunther Schullers »Jazz Ab­strac­tions« teil. Einen Tag später wechselt er das Studio und nimmt am Vormittag mit Ornette Coleman »Free Jazz« auf. Um die Mittagszeit packt er seine Instrumente, Altsaxo­fon, Querflöte, Bassklarinette, und fährt auf die andere Seite des Hudson Rivers, wo er im Studio von Rudy van Geldern in Englewood Cliffs sein drittes Album als Bandleader einspielt, »Far Cry«. Neben dem legendäreren »Out to Lunch« (1964) ist es sein bestes. Ebenfalls Ende Dezember erscheint »Charles Mingus presents Charles Mingus«, ein erst im Oktober dieses Jahres aufgenommenes Album, das den erratischen Bassisten in hochgespannter, produktiv aggressiver, herrlich launischer Stimmung ­präsentiert. Er verzichtet auf das Harmonieinstrument Klavier und lässt die beiden Bläser ungezügelt davon­galoppieren. Fast schon die Erfindung des Jazz-Punk. An der Trompete: Ted Curson. Und an Altsaxofon, Querflöte und Bass­klarinette: Eric Dolphy.

1960 ist ein wirklich außergewöhnliches Jazz-Jahr: Impulse Records veröffentlicht die ersten Alben; Kritiker Nat Hentoff gründet mit Candid ein hyperproduktives Indie-­Jazz-Label; Gunther Schuller definiert den »Third Stream« (ein Hybrid aus Jazz und Neuer Musik) und Gil Evans verabschiedet mit »Out of the Cool« die Cool-Jazz-Ära, zu Beginn des Jahres erreichte seine Zusammenarbeit mit Miles Davis ihren Höhepunkt: Sie spielen »Sketches of Spain« ein. John Coltrane nimmt »My Favourite Things« auf, Max Roach »We Insist! Freedom Now Suite«. Der Jazz politisiert sich, Duke Ellington und Art Blakey bekennen sich zur Bürgerrechts­bewegung. Mingus gastiert gemeinsam mit Dolphy und Bud Powell in Europa, Bill Evans begründet mit Scott LaFaro und Paul Motian das Klavier-Trio neu. Und dann diese zwei Tage im Dezember.

Natürlich steht Ornette Colemans »Free Jazz« im Mittelpunkt, es hat einer ganzen Epoche den Namen verliehen und Coleman — retrospektiv — weltberühmt gemacht. Dabei ist die Musik des Albums nie vor Publikum gespielt worden noch war der Albumtitel als große programmatische Aussage gedacht, bis heute hält sich das Gerücht der Plattentitel stamme eigentlich vom Produzenten.

Zumindest wurde das Album clever vermarktet: Auf dem Cover prangt die Reproduktion eines ­Drip-­Paintings von Jackson Pollock (»Wight Light«). Nicht nur, dass seit diesem Album der Begriff Free Jazz in der Welt ist, auch die passende Charakterisierung, abgeleitet von der Arbeit Pollocks, scheint bei der Hand: abstrakter Expressionismus. So wie bei Pollock der Arbeitsprozess unmittelbar Teil des Kunstwerks ist, findet im Free Jazz die Identität von in Echtzeit gespielter Musik und Komposition statt — außerhalb des Spiels existiert das Stück nicht. Und so wie bei Pollock sich die Struktur des Gemäldes und die Gestaltungskraft des Künstlers erst aus der Distanz erschließen, kann man eine Free-Jazz-Session nur als Gesamtkunstwerk, als integrale Einheit aller Teilnehmenden verstehen.

Alles schön und gut, nur hat es bloß wenig mit Ornette Colemans »Free Jazz« zu tun. Das Stück ist klar struk­turiert — die Abfolge der Soli ist festgelegt, offensichtlich auch ihre Länge —, den Improvisationen liegt ein Thema zugrunde, das die Musiker regelmäßig aufrufen, und den Spielfluss einteilt, die Trennung von Rhythmus-Gruppe und Leadinstrumentalisten ist unzweifelhaft gewollt, die beiden Bassisten und die beiden Schlagzeuger spielen Time-bezogen, soll heißen: keinen frei schwebenden Puls, sondern auf einen 4/4-Takt ausgerichtet. Gemessen an den Klischees, was unter Free Jazz zu verstehen sei, ist Colemans »Free Jazz« geradezu rigide, oder sagen wir es offen: eine Komposition. Ihre Radika­lität besteht in einem besonderen Move: der Dopplung aller Stimmen. Zwei Holzbläser — Coleman und Eric Dolphy an der Bassklarinette. Zwei Trompeter — Don Cherry und Freddie Hubbard. Zwei Bassisten — Scott LaFaro und Charlie Haden. Zwei Schlagzeuger — Ed Blackwell und Billy Higgins. Dadurch, dass Coleman den Anspruch an eine ausgewogene Besetzung gleichzeitig bedient und ad absurdum führt, deckt er das Willkürliche dieses Anspruchs auf. Das ist der Bruch mit der Konvention — daher »Free Jazz«.

Ornette Coleman, Jahrgang 1930, 2015 nach längerer Krankheit gestorben, ist tatsächlich in erster Linie Komponist. Auf dem Altsaxofon hat er zwar eine unverwechselbare Stimme ausgebildet, und er, dem damals häufig Dilettantismus und Scharlatanerie vorgeworfen wurden, hat mit den Jahren ein gewisses Interesse an handwerklicher Perfektion entwickelt. Aber er ist keiner dieser großen Instrumentalisten wie John Coltrane oder Albert Ayler, da ist kein Wuchtbrum­men-Sound, kein Abheben in kosmische Höhen. Coleman bevorzugt einen hüpfenden, singenden Ton — perfekt allerdings für seine verträumten, verspulten, bisweilen naiv anmutenden, dann aber radikal unberechenbaren Stücke und Kompositionsmodelle.

Seit Ende der 1940er Jahre ist er als Musiker unterwegs, er stammt aus Fort Worth, Texas, seine Familie ist bettelarm. Die Erfahrung dieser Armut treibt ihn an, er will weg aus dem Elend, gleichzeitig bereitet sie ihn auf die kommenden Jahre vor. Denn es wird nicht besser. Coleman ergattert lausige Jobs in Bluesbands und Minstrelshows, und die auch noch unregelmäßig. Bandleadern gilt er als mäßig begabt, der Typ mag den Takt nicht halten. Und dann das Aussehen: weißer Trenchcoat (auch im Sommer), lange Haare. Er isst kein Fleisch, trinkt keinen Alko­hol, nimmt keine Drogen, gilt als unzugänglich, in sich gekehrt, »natur­trüb«. Bald schon zieht ­Coleman nach Los Angeles, heiratet — die Dichterin Jayne Cortez —, scharrt ein paar alte Freunde um sich und spielt mit ihnen, wie es im Jazz-Jargon so schön heißt, auf semiprofessionellem Niveau. Er nutzt die Zeit für ausgedehnte musikologische Studien, schreibt wohl an die hundert Stücke, und im Februar 1958 fasst er sich ein Herz, nimmt seine Notenblätter , geht zum lokalen Produzenten Lester Koenig und schlägt vor, ihm doch ein paar Kom­positionen abzukaufen. Coleman spielt ihm auf seinem billigen Plastiksaxofon die Themen vor, Koenig ist vom Donner gerührt und bietet Coleman umgehend einen Vertrag an — als Komponist und Recording Artist.

Der Rest … nein, der der Rest ist eben nicht »Geschichte«, also Selbst­läufer, kein märchenhafter Aufstieg zum Weltstar des Jazz, der Coleman heute unbestritten ist. Die Widerstände, gegen die er sich immer wieder durchsetzen musste — bis in die 90er Jahre hinein — sind beträcht­lich, auf jeden Durchbruch folgt der Abbruch. Mal wird ihm der Plattenvertrag gekündigt, mal muss er seine Gruppe auflösen, weil er der einzige von ihnen ist, der kein Junkie ist. Es wird Jahre geben, wo er ganz von der Szene verschwindet (und in denen er angeblich als Parkplatzwächter arbeitet). Er wird versuchen, sein Loft in der New Yorker Price Street für ein futuristisch-künstlerischen Nachbarschaftstreff zu öffnen, in dem Künstler und Normalos, Avantgardisten und Malocher zusammenfinden sollen — das Loft wird eines Nachts aufgebrochen und ausgeraubt. Er organisiert in Selbstregie Konzerte, um mit viel Tamtam seine Streichquartette und neuesten Jazz-Kompositionen aufzuführen — große Desaster! Er ergattert aber auch hochdotierte Stipendien, ist Headliner der großen Festivals. Es ist eine extreme Karriere, in der »Free Jazz« nur ein Ereignis unter vielen ist.

Viele Kompositionen Colemans bedienen sich Folk und Blues-Themen, aber das Thema resp. seine zugrunde liegenden Akkorde determinieren nicht mehr die Improvi­sationen. Die Gestaltung der Improvisation liegt (fast) vollständig bei den Musikern. Fast — denn die Stück weisen ein tonales Zentrum, einen dominierenden Grundton, auf. Damit ist aber das harmonische Gerüst auf ein einziges Element reduziert, das zudem variabel ist. In der Improvisation entwickelt Coleman etwas, was der Jazzhistoriker Ekkehard Jost »motivische Kettenassoziation« genannt hat, in Anlehnung an die Ècriture automatique der Surrealisten. Das Thema einer Komposition liefert nunmehr Ideen — keine Vorgaben —, die die Improvisatorin in freier Assoziation fortspinnen kann. Oder auch nicht. Wir entdecken eine faszinierende Schwebe von Verbindlichkeit und Unverbindlichkeit in seiner Musik, alles ist möglich, aber schon der kleinste Fehltritt kann zum Absturz des Spiels führen. Sich auf diesem schmalsten Grad sicher zu bewegen, ist die Anstrengung, die Coleman seinen Mitstreitern abverlangt. Keine Frage, dass dadurch die Musik ungemein dynamisiert wird, dass ein Stück nicht mehr als Abfolge ritualisierter Soli wahrgenommen wird, sondern als Vereinigung aller Instrumentalstimmen. Die Kollektivität resultiert aus der kaum gezügelten Freiheit des Einzelnen.

So verstanden ist »Free Jazz« der Pol, von dem ausgehend sich die anderen Einspielungen dieser zwei Tage im Dezember 1960 begreifen lassen: »Jazz Abstractions« (an deren Einspielung Coleman als Solist ebenfalls mitwirkte) stellt bekannte Themen und Harmoniefolgen des Jazz in einen stark verfremdeten Kontext. Obwohl das Album sehr differenziert arrangiert ist und Schuller ohne Zweifel sein Ziel erreicht — die Struktur des Jazz-Standards dermaßen zu abstrahieren, dass sie offen für die wagemutigsten An­schlüsse werden, zum Beispiel für die freien Improvisationen Colemans und Dolphys —, klingt es noch befangen.  

Anders ist es mit Dolphys »Far Cry«. Dolphy, der am 29. Juni 1964 in Berlin an den Folgen einer nicht entdeckten Diabetes tragisch verstarb, war ein großer Jazz-Intellektueller. Sein Form-Bewusstsein, sein dialektisches Gespür sind phänomenal: Er vermochte es, die harmonischen Potentiale einer Kom­position maximal auszureizen, ihr, wenn man so will, disharmonisches Gegenüber zu integrieren. Dolphy war niemals »far out«, sondern vermochte sich bis in die feinsten Verästelungen eines Stückes hineinzuschrauben und das in atemberaubendem Tempo. Als Interpret war er stets klüger als die Komposition. »Far Cry« klingt vordergründig konventionell, umso klarer heben sich Dolphys improvisatorische Höhenflüge — oder Tiefenbohrungen — ab. Indem was er tat, war er völlig frei.

Was verzeichnet die Chronik des Jahres 1960 für diese Tage im Dezember? »Vietnam 1960 — Unter kommunistischer und nordvietnamesischer Führung haben sich die Widerstandsgruppen gegen das diktatorische Regime Südvietnams unter Ngo Dinh Diem zur Nationalen Befreiungsfront (FNL, Front National de Libération du Vietnam-Sud) zusammengeschlossen.« Es war das Jahr der Dekolonisierung (17 afrikanische Staaten erlangten ihre Unabhängigkeit), und wer wollte, konnte den ersten Haarriss in der us-amerikanischen Hegemonie entdecken. 15 Jahre später verließen die letzten Angehörigen der US-Botschaft in Saigon das Land in Panik. Die Bilder vom überfüllten Militärhelikopter auf dem Dach der Botschaft sind ikonisch. Unendlich weit weg davon und doch mit diesen Ereignissen unweigerlich vertäut erklingt Jazzmusik.