Aus fast nichts sehr viel: Isabel Lewis, Foto: Pedro Guilherme Ferreira

Minimalstbeat

Ja, Leute, hier wird kopuliert!

2.000.000.000 Dateien, so viele wurden im Januar 2001 über den P2P-Service Napster getauscht. Der größte Teil davon illegal. Nach meh­reren Klagen und der Einführung restriktiver Filter war ein Monat spä­ter, im Februar, faktisch schon wieder alles vorbei (spätere Reinkarnationen des Netzwerks mit dem audiophilen Alien mal beiseite gelassen). Dennoch hat Napster die Musikwelt nachhaltig geändert.

Wir erinnern uns: Nach dem Abgang Napsters kamen andere Peer-­2-Peer-Server-Dienste in Mode. Sie hießen Kazaa oder eMule. Darauf folgten Torrents und die Pirate Bay. Jedenfalls waren die Tauschbörsen der Grund für die Krise der Musikindustrie — so zumindest die Erzählung eben jenes Zusammenschlusses aus Major-Labels und großer Handelsunternehmen von Saturn bis WOM.

Alle wussten: Was ein Quatsch! Die Probleme sind hausgemacht, Platten wurden zu CDs, jetzt hatten aber alle schon die Beatles in drei verschiedenen Varianten als Silberling, Innovation kam vornehmlich von den Indies — warum die Kuh kaufen, wenn man sie schon leer gemolken hat? Wen traf die einsetzende Krise dann aber trotzdem? Genau jene Indies, die geile Mucke unters Volk brachten. Wenn ein Großer stürzte, dann verleibte sich Universal den schon ein …

Warum ist das überhaupt interessant? Gute Frage. Corona außen vor gelassen, konnte man in den letzten Jahren schon an der Qualität der Veröffentlichungen (nehmen wir die einfachheitshalber als Gradmesser) erahnen, dass die Musik-Szene eigent­lich auf einem guten Wege war. Klar: Selbstausbeutung bei DJ- und Konzert-Touren bitte im Hinterkopf behalten, wir kommen an anderer Stelle darauf zu sprechen. Bis dahin erstmal freuen.

Eine Institution wie Bandcamp, um die es letzten Monat ging, ist nicht ganz unschuldig an der Hausse. Gleichzeitig drückt der Erfolg des kalifornischen Unternehmens die Stimmung der Einzelhändler, die tatsächlich davon leben wollen und müssen, Platten zu verkaufen. Für einen Text in einer Tageszeitung ließ sich Tim Purnell aka Twit One vom Stadt­revue-Nachbarplattenladen »Groove Attack« gerade erst wie folgt zitieren: »Für mich als Musiker ist Bandcamp eine gute Sache, da ich dort spontan, ohne Label oder dazwischen geschal­teten Digitalvertrieb meine Musik hochladen und vertreiben kann. Für mich als Betreiber eines Plattenladens sieht es schon wieder anders aus, wenn mich dort Kun­d*in­­nen nach einem Release fragen, den es zwar bei Bandcamp gibt, aber erst drei Monate später bei den phy­sikalischen Vertrieben.«

Irgendwo davor oder dahinter ordnet sich auch ein Label wie Staatsakt ein. Die sind zwar mit ihrem Jazz-Ableger Fun In The Church bei Bandcamp vertreten, mit dem Stammlabel aber nicht. Dabei erscheint dort durchgängig gute Musik: Richtig begeistern konnte die Vorab-Single von Masha Qrella mit dem Titel »Geister«. Mit dieser Hi-NRG-Singer-Song­writer-Pop-Nummer, die lässig Arpe­ggiatur und einen Text des großen Thomas Brasch in einen Zementmischer wirft, bringt Qrella ihre Kunst auf ein neues Level. Gibt es aber eben nicht bei Bandcamp, sondern nur bei Apple Music oder ab Februar als Album. Staatsakt-Chef Summen sagt, dass es durchaus denkbar sei, mit dem Label zu Bandcamp zu gehen: »Alles eine Frage von Zeit und Administrationswillen.« Natürlich versuche man aber weiterhin, die verbliebenen Plattenläden zu unterstützen.

Auch PIAS versucht normalerweise Platten zu verkaufen, die EP der Londonerin Nilüfer Yanya kommt hingegen »digital only« und vornehmlich über Bandcamp zu uns. Auf der »Feeling Lucky«-EP macht die 25-Jährige endlich das, was die Heads schon lange erhoffen: so ziemlich das Beste, was Radio-Pop derzeit sein kann. Die Gitarre zerrt, heftige Sidechain-Kompression und die außerweltliche Stimme: »Crash« klingt wie der Soundtrack zum ungeplanten 2021-Cronenberg-Film-Remake.

Apropos Jahr 1 »nach« Corona: Wehmut macht sich in meiner Brust breit, wenn ich solche Platten wie Isabel Lewis’ »Erotic Love As Sociability« in die Hände bekomme. Das letzte Jahr hat einen verdammt dünn­häutig gemacht; selbst Stuben­hocker warten darauf, mal wieder Nachtleben zu spüren. Bewegte Körper in dunklen Räumen, Schweiß tropft von der Decke: (virtuelle) Erotik. Lewis, die diese Viertelstunde Minimalstbeat und Stimmverzerrung für eine Performance im Jahr 2019 kreiert hat, gelingt mit das Zauberstück aus »fast nichts« sehr viel zu machen. Immer wieder schieben sich Vokabelfetzen über- und ineinander. Ja, Leute, hier wird kopu­liert. Und das ist auch gut so. Auf der Tanzfläche wird diese Platte nie funk­tionieren, höchstens als Tool. Im »Lockdown Light« berührt sie sehr.

Das gleiche kann man über die »Oysterballads01« des Brüsseler DJs und Produzenten Lawrence Le Doux sagen. Der Belgier hat sich in den letzten Jahren nicht nur einen Namen als Soundtrack-Tüftler (»Donna Haraway: Story Telling For Earthly Survival«) und (Digi-)Dub-Künstler gemacht, mittlerweile macht er eben sexy Dance-Musik für gehypte Labels wie Kalahari Oyster Cult. Die vier Balladen pendeln zwischen Video-Rollenspiel-Soundtrack, Ambient, Downbeat und Soca-Rhythmen hin und her. Es klingt durch sie ein fernes Echo aus einer Zeit voller fruchtiger Light-Biere, bedeutenden Gesprächen mit Fremden und dem sanften Gefühl gebraucht zu werden.

Tonträger:

Isabel Lewis, »Erotic Love As Socia­bility« (Fiedeltwo/Hardwax)

Lawrence Le Doux, »Oysterballads01« (Kalahari Oyster Club/One Eye Witness)

Nilüfer Yanya, »Feeling Lucky EP« (PIAS)

Masha Qrella, »Geister« (Staatsakt)