Endlich vorbei?

2020 passé. Ein Rekordjahr im negativen für die Industrie und Musikbranche? Viele Kreative haben die

Verschnaufpause nutzen können und freuen sich auf ein Wiederaufblühen

Man arbeitet hart hinter den verschlossenen Toren von Clubs, Aufnahmestudios und Festivalbüros. Überall blicken sie nach vorne. Darauf, dass im kommenden Jahr endlich wieder das Leben losgehen soll — und dann will man vorbereitet sein! Im Gespräch mit diversen Akteuren der Szene ist von Gejammer über das vergangene Jahr nicht mehr viel übrig. Stattdessen macht sich Aufschwungszuversicht breit. Wer 2020 in die Röhre geguckt hat, wird es jetzt erst recht wissen wollen.

Während es im Sommer danach aussah, als hätte kollektive Realitätsverweigerung eingesetzt, und sich die ganze Welt auf illegalen Open Airs in Parks und Co. tummelte, sind jetzt andere Zeiten aufgezogen. Wo gefühlt gestern noch Bierflaschen im Park aneinander klonkten, picken jetzt Tauben enttäuscht das Streusalz auf. Ein tristes Bild, doch hinter der Bühne schwillt allerorts der Optimismus. Ein Impfstoff in Aussicht, lange soll es nicht mehr dauern. Wann dann der Startschuss für eine neue Festival-Saison fallen darf, ist zwar noch unklar, doch die Aufbruchsstimmung ist da.

Und auch sonst war 2020 nicht alles schlecht. Bei Figure in Berlin, dem Technolabel von DJ und Produzent Len Faki, hat man das Jahr gemischt erlebt. Labelmanager Philipp Welzenberg erinnert sich: »Dadurch, dass viele Künstler nicht performt haben, gab es sehr viel neue Musik. Wenn auch zwischenzeitlich die Produktion erschwert war und finanzielle Ungewissheit bestand, so ging es nach kurzem Hiatus weiter.« Die Labels selbst waren essenzielle Anlaufstellen, mit deren Hilfe sich die Künstler auch ohne Live-Auftritte ihrem Publikum präsentieren konnten. Die Menschen kauften auch weiterhin Techno, obwohl der Club-Kontext dafür im echten Leben fast komplett fehlte. Die Nachfrage nach Clubmusik war zwar nicht so stark wie sonst, aber sie bestand weiter — »weil es die Leute einfach manchmal gebraucht haben, sich diese Musik zuhause anzuhören, dazu zu feiern und das Clubgefühl, das man vermisst, etwas zu rekreieren«, mutmaßt Welzenberg. Vielleicht liege es auch daran, dass ohne die Möglichkeit auszugehen mehr Geld zum Kaufen von Musik bliebe. Bei Figure hatte man das Glück, schon zum Ende des letzten Jahres mit den Vorbereitungen zur Ambient-Compilation »Open Space Vol. 1« begonnen zu haben — sie kam genau zur richtigen Zeit.

Dem kommenden Jahr sieht Welzenberg positiv entgegen. Es könne eine Art »System-Reset« in der DJ-Branche geben. In den vergangen Jahren kamen manche Künstler sehr schnell zu großem Ruhm, Gagen und Starfaktor verfielfachten sich ins Absurde. Ein Teil derer, denene es hauptsächlich um Karriere ging als um Musik und Community, könnte nun wieder abgesprungen sein. — »Das bedeutet, dass jetzt vielleicht vermehrt die dabei bleiben, die es wirklich aus Leidenschaft gemacht haben.« Leider sei es gleichzeitig aber eine Geldfrage, ob man es sich überhaupt leisten könne, Musik zu machen, gibt der Labelmanager zu bedenken: »Es wäre traurig, wenn es die ohne Geld aber mit viel Herzblut trifft. Aber es könnte auch Nährboden für einen Wiederaufbau sein.«

Unzufriedenheit besteht bei ihm hingegen mit den bislang erfolgten Unterstützungen für den Clubsektor seitens der Bundesregierung. Das im Frühjahr erlassene Soforthilfenpaket sei »an der Realität vieler Clubs und DJs vorbei gegangen. Manche DJs haben laufende Kosten in ganz anderen Dimensionen, als es von Politikern eingeschätzt würde. Dabei geht es um mehr als um Grundversorgung mit Lebensmitteln und die Wohnungsmiete. Auch Musiker müssten zudem auf dem Laufenden bleiben, Musik produzieren, eventuell gibt es sogar Angestellte, Kosten für PR und Website, das sei sehr individuell und müsste bestmöglich aufgestellt sei. Nicht zuletzt muss man als Produzent selber Musik kaufen.«

Zwar hat die Regierung angekündigt, die Förderungen für den Kultursektor in 2021 um 155 Millionen Euro auf ingesamt 2,1 Milliarden Euro aufzustocken. Diese gewaltige Summe verteilt sich aber auf nur eine relativ geringe Anzahl kostspieliger Subventionsprojekte. So erhält zum Beispiel allein das Bayreuther Festspielhaus für seine Renovierungsarbeiten satte 85 Millionen Euro — während die meisten Clubs und Künstler davon wohl nichts sehen werden. »Ich denke wir hätten das Zeug und die Mittel da mehr zu helfen«, klagt Welzenberg. Es scheitere an der »Unverbundenheit von Unten und Oben«. Gerade in einer Stadt wie Berlin, in der die elektronische Musikszene einen wichtigen wirtschaftlichen Motor darstellt, sei die unzureichende Hilfe der Regierung, traurig und kurzsichtig. Ein Wiedereröffnen der Clubs nach der Verbreitung von Impfstoffs und Schnelltests müsse vor allem bald geschehen, da das Clubsterben schon begonnen habe.

Mit Besserung ab spätestens Herbst 2021 rechnet DJ Kavaro aus Köln (Sector Cologne). »Ich könnte mir vorstellen, dass dann langsam wieder etwas Normalität einkehrt, falls denn die COV-19 Impfungen den gewünschten Erfolg bringen.« Er ist motiviert, dann mit Vollgas zurückzukehren. Ihm fehle das Auflegen zwar als wichtiger Teil des Ausgleichs, aber so blieb 2020 wenigstens noch die Natur, von der er umso ausgiebiger Gebrauch machte. Daneben fand er vor allem endlich wieder mehr als genügend Zeit, sich in Ruhe zuhause neue Platten aus experimentelleren Bereichen wie IDM anzuhören.

Das Phänomen dieser allerorts stattfindenden Home-Listening-Renaissance hat wiederum positive Auswirkungen auf die Produzenten. So findet Heiner Kruse vom Kölner Label Basswerk, dass dadurch, dass die Musik gerade hauptsächlich zuhause konsumiert wird, wieder »genauer hingehört« werde. Gerade in den von ihm produzierten Genres Drum & Bass und Jungle gebe es deshalb wieder Platz für »subtilere Nuancen« anstatt der zuletzt »immer brutaler gewordenen Rave-Nummern«. Sein letzter Auftritt im März — eine Mischung aus Ambient und Clubmusik — kommt ihm heute »fast surreal vor, fast wie ein Wegweiser.«

Kleinere, nicht kommerziell betriebene Clubs wie der Wendelpfad aus Lüdenscheid haben 2020 als »Verschnaufpause« genutzt — vielmehr: nutzen müssen. Man konnte vergangene Momente reflektieren und das eigene Konzept weiter verbessern. Besonders getroffen haben die Crew dagegen die »wenigen intimen, zwischenmenschlichen Momente« im vergangenen Jahr und die Absage aller Festivals, die sonst einen festen Teil des Sommers darstellten. Aber selbst professionelle Veranstalter versuchen, der Zukunft zuversichtlich entgegen zu blicken. So schreibt der Void Club aus Berlin in einem Statement: »Manchmal ist es schwierig, positiv zu bleiben, dennoch wird die Hoffnung nie verschwinden, solange die Politik hilft und genau das ist was wir uns wünschen.«

Unterdes wartet jene Politik gespannt auf die Ergebnisse aus der im Oktober durchgeführten Studie zur Verbreitung von Aerosolen bei Großveranstaltungen. In einer Konzertsimulation wurden 1400 Testbesucher*innen in die Arena Leipzig geladen und Daten gesammelt. Die Auswertung lässt allerdings noch länger auf sich warten, und ob die Ergebnisse eine mögliche Wiedereröffnung der Clubszene positiv befördern, steht in den Sternen. Gleichzeit beginnen erste Festivals damit, ihre Termine für 2021 zu bestätigen und erste Bookings anzukündigen. Die Fusion hat großes Vertrauen in das Konzept, Ende Juni und Anfang Juli eine auf zwei Wochenende aufgeteilte Version ihres Groß-Festivals umsetzen zu können. Bis dahin ist es noch eine Weile hin. Aber irgendwann ist er wieder da, der Festivalsommer. So unbegründet ist die Hoffnung nicht.