Verletzlicher Pop

Die Ausstellung Andy Warhol NOW stemmt eine Mammutaufgabe: den Künstlerstar aus heutiger Sicht neu zu entdecken

Es ist 33 Jahre her, dass Andrew Warhola aus Pittsburgh, Pennsylvania, an den Komplikationen einer Gallenblasen-Operation starb. Zu dem Zeitpunkt hatte sich der Sohn russinischer Einwanderer, den man gemeinhin als Andy Warhol kennt, längst zum wichtigsten Künstler der Nachkriegszeit entwickelt. Bereits zwei Jahre nach dem Tod widmete das Museum Ludwig seinem Werk eine große Retrospektive. Seine Bilder dürften die meistrezipierten der letzten hundert Jahre sein. Andere Kunststars wie Picasso oder Dali waren zu Lebzeiten Ikonen — Warhol war alles, was er sein wollte.

Zurück zum Anfang. Seine Karriere begann Andy Warhol als Grafiker, wechselte in das Fach der Malerei, trieb diese an ihre Grenze, in dem er mit Hilfe der Serialität des Siebdruckverfahrens die malerische Geste des Künstlers auflöste. Er gründete in Manhattan die Factory, die schnell zum Party- und High-Society-Ort wurde; er machte Filme, Bühnen- und Fernsehshows, ein Magazin und Auftragsarbeiten, überführte die Kunst in eine Celebrity-Kultur; seine Siebdrucke von Marylin und Liz und Aubrey werden sowohl bei Sotheby’s als auch bei Ikea verkauft. Man wird ganz atemlos, wenn man bloß dieses Leben zusammenfasst. Was soll eine Retrospektive im Jahr 2020 also sonderlich Neues zu Tage befördern? Kann es wirklich um viel mehr gehen als das Event, den Blockbuster?

Um das zu beantworten, muss man die Ausstellung »Andy Warhol Now«, die nach erfolgreichen Monaten in der Tate Modern von London nach Köln in das Museum Ludwig kommt, schon genauer ansehen. Der Rundgang beginnt im Eingangsbereich mit einer detaillierten Timeline und der Serie »Screen Tests«, schlängelt sich durch den Sonderbereich im Südteil des Museums und endet ein ganzes Leben später im DC-Saal mit den 80er Jahren und Warhols letzten Arbeiten vor seinem unerwarteten Tod. Dazwischen finden sich selbstverständlich längst ikonische Arbeiten: die Brillo- und Campbell-Soup-Boxen, der Film »Sleep« (der hier dankenswerter Weise wie ein Gemälde präsentiert wird), »129 Die in Jet!« und andere Bilder aus der Death & Disaster-Reihe, elektrische Stühle, Mao-Konterfeis, Kühe, Plattencover — selbst die Silver Clouds, jene sachte dahingleitenden, tanzenden Silber-Ballons, bekommen einen eigenen Raum.

Ginge es dieser Ausstellung lediglich um eine weitere Kanonisierung, dann hätte man damit seine Schuldigkeit getan. Es wäre eben jene abgeschmackte Show, die andere Museen in den letzten Jahren Warhol-Apologeten wie Takashi Murakami, Damien Hirst oder Jeff Koons gewidmet haben. Doch die vier Kuratoren — Stephan Diederich und Yilmaz Dziewior vom Museum Ludwig, Gregor Muir und Fiontán Moran von der Tate Modern — vollbringen das Kunststück, dem nur scheinbar ausgenudelten Oeuvre neue, vor allen Dingen aktuelle Facetten abzuringen. Dies gelingt durch eine doppelte Schwerpunktsetzung: Einerseits lauert der Horror des Todes an jeder Ecke, andererseits nimmt man sich der kraftvollen queeren Seite Warhols an. Wann immer sich beide Themenpfeiler berühren, nahe kommen und übereinanderlegen, weiß die Ausstellung zu glänzen.

Da sind etwa jene selten im Fokus stehenden Zeichnungen aus den 50er Jahren, in denen sich der junge Warhol mit schwarzem Liner der eigenen Homosexualität nähert. In dem ehedem als pervers und sodomitisch bezeichneten Sujet reiht er erotisch aufgeladene Männergesichter, Männerkörper, Genitalien aneinander. Das geschieht mit einer bisweilen vergessenen Aufrichtigkeit und Zärtlichkeit.

Im gleichen Lichte ließe sich auch die Fotografie Richard Avedons betrachten. 1968 verübte die mit einer Pistole bewaffnete Radikalfeministin Valerie Solanas ein Attentat auf Warhol. Einige Zeit danach ließ Warhol seinen Oberkörper ablichten: In sachlichem Schwarz und Weiß sieht man dort seinen geschundenen, verletzten und notdürftig geflickten Torso, der von Nähten und Narben unterteilt wird in Fragmente der Zerbrechlichkeit. Gleichzeitig strahlt dieser Körper eine fesselnde Erotik der Imperfektion aus. Man meint hier die Blaupause für die Narben-Close-Ups aus seinem Film »Flesh For Frankenstein« (mit Udo Kier) aus dem Jahr 1972 zu erkennen.

Besondere Aufmerksamkeit sollte man der Serie »Ladies and Gentlemen« widmen, die gleich neben dem DC-Saal im Flügel hängt. Vom italienischen Kunsthändler Luciano Anselmino in Auftrag gegeben, widmet sich Warhol hier dem Nachhall der Stone-Wall-Riots. 14 Models — vornehmlich Latinx und Schwarze* — wurden dafür aus New Yorker Gay-Clubs angeworben, hundertfach fotografiert und dann in Warhol’scher Manier in Siebdruck verewigt und nachträglich mit Farbe bearbeitet. Solch eine folgende Ausarbeitung des Gemäldes findet sich mitunter auch in den Werken der 60er Jahre, hier fällt sie besonders exaltiert aus. Mit den Fingern wurden Linien nachgefahren, expressionistische Farbwülste über die Gesichter gelegt. Dieses Moment der ursprünglich-natürlichen Annäherung an die Motive lässt einen gewissen Nähekonflikt vermuten. Es scheint, als ob Warhol diesen Menschen nahe sein wollte, aber es aus vielerlei Gründen nicht sein konnte. Einerseits hatte er als Folge des Attentats seine frühere Unbekümmertheit in der Begegnung mit Fremden verloren, andererseits war er auch nicht Teil eben jener proletarisch-migrantischen LGBTQ-Szene. Seine Welt war der glitzernde Schimmer des Studio 54. Die Bars an der Christopher Street waren nicht prunkvoll. Dass Warhol die Models für kleines Geld ablichtete und die Gemälde für großes Geld verkaufte, passt in seiner Widersprüchlichkeit ins Bild.

Obgleich auch Andy Warhols verletzliche Seite früher schon beleuchtet wurde, wirkt sie am Anfang der »Neuen Zwanziger Jahre« aktueller denn je. In der Ausstellung werden Fragen von Identität und Persönlichkeit, Verdrängung und Subalternität, Trauma und (Todes-)Angst aufgeworfen. Das sind keineswegs Themen aus dem letzten Jahrhundert; sie bewegt die junge Generation — und nicht nur die — heute genauso. Dadurch mag man einer solchen Highlight-Show vielleicht mit einer gewissen Ignoranz begegnen, ihre Bedeutung kann die Ausstellung bis ins Detail der durchdachten Präsentation durchaus beweisen. Dass sie nun seit Anfang Dezember fertig gehängt im gespenstisch leeren Museum Ludwig auf Besucher*innen wartet und derzeit niemand vorherzusagen wagt, wann sie tatsächlich eröffnet werden kann — das ist eine andere, ebenso widersprüchliche Geschichte unserer Zeit. Nicht nur der Popstar Andy Warhol hatte seine verletzliche Seite.

ANDY WARHOL NOW, Museum Ludwig, geplant bis 18.4.2021, Eröffnung sobald das Museum seinen Ausstellungsbetrieb wieder aufnehmen darf.

Timeslot-Tickets können dann online gebucht werden auf museum-ludwig.de

Aktuell stellt das Museum auf seiner Website und den Social Media digitales Material rund um die Ausstellung zur Verfügung