Zum Heulen: Wer traut sich?, Foto: Lucie Ella

Das große Heulen

25 Schauspieler*innen erzählen in einer Videoserie vom Weinen auf der Bühne

»Ich glaube, ich kann das jetzt.« Nachdenklich kaut Martin Schnippa, früheres Ensemblemitglied des Düsseldorfer Schauspielhauses, auf seinen Lippen. »Ich kann jetzt weinen auf der Bühne und vor der Kamera.« Auch ihn hat das Postpaket erreicht, das während der vergangenen Sommermonate kreuz und quer durch die Republik reiste, darin eine Go-Pro-Kamera, ein Stativ, ein Mikrofon. Auf den Weg geschickt hat es das Künstlerinnen-Kollektiv »werkgruppe2«, zu Forschungszwecken gewissermaßen. Herausge­kom­men ist eine kontaktlose Expedition in das tiefe Tal der Tränen. In impro­visierten Studios, in denen immer auch die Intimität des eigenen Zuhau­ses aufscheint, erzählen 25 Schauspieler*innen davon, wie es ist, einen Menschen zu spielen, der weint.

»Wer lacht oder weint, verliert in gewisser Weise die Beherrschung«, schrieb 1941 der Philosoph Helmuth Plessner, als er in seiner Anthropologie Naturphänomene im Menschen selbst untersuchte: das Schlot­tern und Zucken des entfesselten Lebens. Wie aber steht es um Tränen »auf Kommando«, um performative Tränen, die man vergießt, wenn man eigentlich nur so tut? Natürlich sind die Filmclips, die man sich nun im Netz ansehen kann, manchmal auch Expert*in­nen-­Schnack. Es geht um handwerkliche Tricks, um ätherische Öle, die man sich unter die Augen reibt, und Puster, die die Bindehaut austrocknen, bis die Tränen fließen.

Doch im Grunde kreisen sie alle um die eine Frage: Möchte man diesen wahrhaftigen Teil seiner selbst, diesen »inneren Kern«, den man zum Weinen ansprechen müsse, wie Denise M’Baye sagt, dem Publikum überhaupt offen­baren? Es wird Rotz und Wasser geheult, so viel sei verraten, schließ­lich hatte die »werkgruppe2« alle Beteiligten explizit um eine Vorführung gebeten. Allerdings werden diese Tränen im Vorfeld durchdekliniert: Mathias Buss erzählt, wie Kollegen ihn auslachten, weil er als Mann auf der Bühne weinte. Ariane Andereggen ärgert sich über den klassistischen Regiereflex, nach dem »arme Leute« auf der Bühne häufig heulen sollen — vor einem weitgehend bildungsbürgerlichen Publikum. Und Sithembile Menck erklärt, dass Wut und Traurigkeit bei ihr als Schwarzer Frau ohnehin anders gedeutet würden.

Am Ende führt die Expedition also weit über das eigentliche Ziel hinaus: Statt nur zu beantworten, ob falsche Tränen jemals echt sein können, zeigt das Projekt auf, wer sie aus welchem Grund vergießt — und wer es lieber bleiben lässt.

Alle 25 Videos im Netz unter weinen.net