Schuld ohne Sühne

Vor zwei Jahren machte eine Studie das Ausmaß sexuellen Missbrauchs durch Kleriker sichtbar. Kardinal Woelki kündigte schonungslose Aufklärung im Kölner Erzbistum an. Doch dann verbannte er ein selbst in Auftrag gegebenes Gutachten in den Giftschrank. Nun zeigt sich: Auch Woelki hat offenbar Taten vertuscht und Täter geschützt

Ein Flugzeug fliegt tief über die Wahner Heide, im Landeanflug auf den benachbarten Flughafen. Gleich darauf heult eine Motorsäge auf. Patrick Bauer steht unter einem großen, knorrigen Baum und muss lachen. Er geht oft raus in die Natur, um abzuschalten. Doch ruhig ist es an diesem Dezembermorgen nicht.

Bauer kommt auch sonst kaum zur Ruhe, seit er Anfang November als Sprecher des Betroffenenbeirats des Kölner Erzbistums zurückgetreten ist. Vorausgegangen war ein Streit um ein Gutachten zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Erzbistum und ein Ränkespiel des Kölner Erzbischofs, das viele als neuen Tiefpunkt in den Bemühungen um Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche ansehen. »Viele Mitbetroffene sprechen davon, erneut missbraucht worden zu sein«, sagt Patrick Bauer.

Vor zwei Jahren erschien die sogenannte MHG-Studie, benannt nach den Standorten der beteiligten Forschungseinrichtungen in Mannheim, Heidelberg und Gießen. Darin wurde erstmals das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in deutschen Diözesen sichtbar: Im Erzbistum Köln etwa fanden die Wissenschaftler im Untersuchungszeitraum von 1946 bis 2014 Hinweise auf mindestens 135 Betroffene und 87 beschuldigte Kleriker in den Akten. Das sind nur die Fälle, die überhaupt gemeldet und in die Akten aufgenommen wurden, die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher liegen.

Der Erzbischof von Köln, Kardinal Rainer Maria Woelki, zeigte sich entsetzt. Er schäme sich für den Missbrauch durch Kleriker, sagte er und kündigte an, die Vorgänge in seinem Bistum »lückenlos« aufzuklären und auch mögliche Vertuscher und Mitwisser in hohen Ämtern beim Namen zu nennen. Er beauftragte die Münchner Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl im November 2018 mit einer »unabhängigen Untersuchung«, die im März 2020 veröffentlicht werden sollte. Mit den Ergebnissen aus München verknüpfte er auch sein eigenes Schicksal. Wenn man ihm nachweisen könne, dass er sich an Vertuschung beteiligt habe, dann müsse das Domkapitel eben neu wählen.

Auch im Leben von Patrick Bauer änderte sich nach Erscheinen der MHG-Studie einiges. Bauer ist ein großer, kräftiger Mann, von Beruf Gefängnisseelsorger. Menschen, die in großen Nöten sind, vertrauen sich ihm an. Vor zwei Jahren erzählte Bauer schließlich seine eigene Geschichte der Öffentlichkeit: Als Schüler wurde er am Aloisiuskolleg in Bonn sexuell missbraucht, jahrzehntelang hatte er diese Erfahrung verdrängt. »Bis ins Jahr 2010 habe ich noch gesagt, die Internatszeit war die schönste meines Lebens«, erzählt Bauer. Dann enthüllte der Jesuitenpater Klaus ­Mertes den systematischen Missbrauch einzelner Patres am Canisiuskolleg in Berlin.  

In den folgenden Monaten kam hoch, was jahrzehntelang in der katholischen Kirche unter den Teppich gekehrt wurde: Missbrauch in allen Bistümern, im Kommunionunterricht, auf Jugendfreizeiten, an Messdienern. Auch das Aloisiuskolleg in Bonn stellte sich als Ort des Grauens heraus. Mehr als hundert Schüler meldeten sich, mindestens 23 Patres und Lehrer gelten als Täter. All das sind Fälle, die in der von der Deutschen Bischofskonferenz (DBK) in Auftrag gegebenen MHG-Studie nicht auftauchen, weil sie die Ordensgemeinschaft nicht einbezieht. Im Sommer wurde das Internat des Aloisiuskollegs schließlich geschlossen.

Nachdem Bauer im WDR über den Missbrauch berichtet hatte, meldete sich der Kölner Erzbischof bei ihm und bat ihn, einen Betroffenenbeirat aufzubauen. Der Kardinal meint es ernst, so empfand es Bauer damals. »Ich hatte wahnsinnige Hoffnungen. Wir waren ja Pioniere!« Bauer machte mit, und das Kölner Erzbistum bekam als erstes in Europa einen Betroffenenbeirat, der im März 2019 seine Arbeit aufnahm.

Doch heute fühlt Bauer sich tief getäuscht. Im März 2020, nur zwei Tage, bevor die Münchner Kanzlei die Ergebnisse ihres Gutachtens vorlegen sollte, sagte der Kardinal die Pressekonferenz ab. Es gebe äußerungsrechtliche Bedenken, möglicherweise würden Persönlichkeitsrechte verletzt. Die Gutachter müssten nachbessern. »Ich dachte, okay, wenn sonst die ganze Untersuchung in Gefahr ist, dann lieber noch mal nacharbeiten«, so Bauer. »Aber da hatte ich schon das Gefühl, es wird rumgedruckst.«

Schließlich wurde der Betroffenenbeirat am 29. Oktober zu einer Dringlichkeitssitzung einberufen. Dann geschah, was einige Betroffene nun als zweiten Missbrauch beschreiben. »Wir wurden völlig überrumpelt«, sagt Bauer. Den Betroffenen saßen mehrere Juristen, der Erzbischof und der Generalvikar gegenüber. Die Juristen erklärten den Betroffenen, die Untersuchung sei schlampig ausgeführt worden und zur Aufklärung nicht geeignet. Ob die Betroffenen einverstanden seien, dass man ein neues Gutachten in Auftrag gebe. So gaben die Beiratsmitglieder ihr Einverständnis. Bedenkzeit bekamen sie nicht. Am folgenden Tag verkündete Kardinal Woelki, das Münchner Gutachten werde nicht veröffentlicht, stattdessen würde der Kölner Strafrechtler Björn Gercke eine neue Untersuchung anfertigen. Sie soll im März 2021 veröffentlicht werden. Das sei übrigens auch der »ausdrückliche Wunsch des Betroffenenbeirats«.

Doch Bauers Gefühl, getäuscht worden zu sein, wurde immer größer. Nach zwei Tagen widerrief er seine Unterstützung. Schließlich trat er aus dem Betroffenenbeirat aus. »Heute weiß ich, dass das neue Gutachten längst beauftragt war«, sagt er. »Es ging nur darum, den Stempel aufbringen zu können: vom Betroffenenbeirat zugestimmt.«

»Schändlich« nennt Thomas Schüller den Umgang der Bistumsleitung mit den Betroffenen. Schüller ist Theologe und Kirchenrechtler an der Universität Münster. Er fordert, das Münchner Gutachten sofort zu veröffentlichen. Den Vorwurf, die Untersuchung habe methodische Mängel, hält er für vorgeschoben. Die Kanzlei sei sowohl im staatlichen als auch im kirchlichen Strafrecht bewandert — im Gegensatz zum jetzt beauftragten Juristen Gercke, der vom Kirchenrecht »keine Ahnung« habe.

Der Auftrag sei aber nach wie vor derselbe: »Die Fälle, die in den Akten auffindbar sind, nach kirchlichem wie staatlichen Recht zu analysieren und vor dem Hintergrund des Ethos der katholischen Kirche zu bewerten«, so Schüller. Das heiße dann auch, zu benennen, wer Verantwortung trage »für Rechtsverstöße oder eine Missachtung der Opfer­perspektive.« Gercke kündigte denn auch an, man werde die Verantwortlichen nicht schonen. Auch Woelki beteuert weiterhin, er wolle aufklären.

Bundesweit berichteten die Medien über die Kölner Geheimniskrämerei, die Empörung war groß. Viele Laienverbände protestierten, selbst Bischöfe übten Kritik und forderten Woelki auf, das Gutachten zu veröffentlichen.

Am 13. November veröffentlichte das Bistum Aachen eine Untersuchung mit ähnlichem Auftrag, ebenfalls von der Münchner Kanzlei. Hier wurden Namen genannt.

Am 26. November veröffentlichte der Kölner Stadt-Anzeiger ein Teilgutachten derselben Münchner Kanzlei über den Fall des Pfarrers A., das dem Kölner Erzbischof bereits seit 2019 vorlag. Der heute 87-jährige Geistliche wurde zweimal wegen Missbrauchs verurteilt. Im Gutachten wird deutlich, wie er zwischen den Bistümern Köln, Münster und Essen hin- und hergeschoben wurde. Die Kölner Erzbischöfe Joseph Höffner und Joachim Meisner, Vorgänger von Woelki, hätten »pflichtwidrig« kirchenrechtliche Verfahren gegen ihn unterlassen und ihn sogar wieder in der Seelsorge eingesetzt. Auch die damaligen Generalvikare und der frühere Personalchef Stefan Heße, heute Erzbischof in Hamburg, treffen die Vorwürfe. Woelki bezeichnete den Umgang mit Pfarrer A. im Interview mit dem Domradio als »jahrzehntelange Aneinanderreihung schwerer Fehler«. Bereits 2019 hatte er dem Pfarrer alle priesterlichen Dienste untersagt und die Glaubenskongregation im Vatikan eingeschaltet.

Doch die Frage blieb: Was treibt Woelki dazu, erst den harten Aufklärer zu geben, um dann aller schlechten Presse zum Trotz die Ergebnisse in den Giftschrank zu verbannen?

»Die Angst vor einer Veröffentlichung ist offenbar zu groß«, sagt der Kirchenrechtler Thomas Schüller. Im Unterschied zum Bistum Aachen lebten noch viele Akteure, die sich als Vertuscher herausstellen könnten. Und schon während der Arbeit an dem Gutachten habe Woelki feststellen müssen: »Die noch lebenden und sich in hohen Ämtern befindlichen Akteure wehren sich.« So hat der Justiziar des Erzbistums Hamburg, dem der frühere Personalchef und Generalvikar Kölns Stefan Heße vorsteht,

Verstöße gegen Datenschutz und Persönlichkeitsrechte moniert. Bereits im September hatten Zeitungen berichtet, dass die Münchner Kanzlei ihm »regelmäßig wiederkehrende, durchgängig festzustellende Mängel in der Sachbehandlung von Missbrauchsfällen« vorwirft, »basierend auf einer indifferenten, von fehlendem Problembewusstsein geprägten Haltung des Dr. Heße gegenüber Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker«. Auch die früheren Kardinäle Höffner und Meisner sowie die Generalvikare Norbert Feldhoff und dessen Nachfolger Dominik Schwaderlapp würden im Gutachten belastet, heißt es.

Die Beschuldigten arbeiteten eng zusammen. Wenn ein Vorwurf des sexuellen Missbrauchs aufkomme, habe ein Personalchef keine Entscheidungsgewalt. Alles müsse dem Generalvikar weitergemeldet werden. Die Letztentscheidung treffe der Bischof. »Wenn einem ein Verstoß nachgewiesen wird, dann fallen alle.« Schließlich vermutet Schüller noch ein weiteres Motiv: Woelki sehe die Gefahr, dass er selbst Gegenstand des Berichts sei. Schließlich sei er jahrzehntelang in verantwortlicher Stellung gewesen. Nachdem er bereits zwei Teilgutachten kennt, könne er »die Tiefendimension einer solchen unabhängigen Untersuchung mittlerweile erahnen.« Kurzum: »Woelki hat definitiv Angst um sein Amt.«

Diese Angst ist hochberechtigt: Am 10. Dezember, kurz vor Redaktionsschluss dieser Ausgabe, enthüllte der Kölner Stadt-Anzeiger einen Fall aus dem geheim gehaltenen Münchner Gutachten, der Woelki schwer belastet. Der Kardinal soll 2015 einen Fall schweren sexuellen Missbrauchs durch einen 2017 verstorbenen Pfarrer nicht an den Vatikan gemeldet haben. Der Düsseldorfer Priester soll einen Jungen im Kindergartenalter vergewaltigt haben. Woelki, der den Beschuldigten gut kannte, räumte ein, von den Vorwürfen bereits 2011 erfahren zu haben. Nichtsdestotrotz nahm der den Beschuldigten ein Jahr später sogar noch mit zu seiner Kardinalserhebung nach Rom.

Woelki erklärte, den Fall nach seiner Ernennung zum ­Kölner Erzbischof wegen des schlechten Gesundheitszustands des Geistlichen nicht nach Rom gemeldet zu haben. Zudem habe das Opfer nicht an der Aufklärung mitwirken wollen. Noch am Tag der Enthüllungen im Kölner Stadt-Anzeiger wandte sich Woelki an den Papst. Er soll die Vertuschungsvorwürfe nun prüfen. Auch der Münsteraner Bischof Felix Genn prüft kirchenrechtliche Untersuchungen gegen Woelki. Es wird eng für den Kardinal. Kirchenrechtler Schüller hält seinen Rücktritt inzwischen für unausweichlich. Doch bis Redaktionsschluss wollte Woelki davon nichts wissen.  

Am 6. November parkte ein Kleinbus vor dem Kölner Dom, später vor dem Bischofshaus, darin war eine Beichtgelegenheit eingerichtet. »Wir haben ihn aufgestellt, damit die verantwortlichen Herren im Erzbistum sich zu ihren Fehlern bekennen können«, sagt Elisabeth Mies. Sie engagiert sich für die Bewegung Maria 2.0, die vor zwei Jahren entstand — aus Entsetzen über das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der Kirche. »Niemand hat bis heute Verantwortung dafür übernommen oder gar seinen Rücktritt angeboten.« Ein Priester sei auch heute noch quasi unantastbar, das lade zu Machtmissbrauch ein. »Dieser Status muss weg.« Für Mies ist es offenkundig, dass die Machtstrukturen und das Pflichtzölibat sexuellen Missbrauch begünstigen. Dass der Kardinal das Gutachten nicht veröffentlichen will, sei skandalös. »Das sind genau die Machtstrukturen, die wir kritisieren.«

Endlich den Missbrauch aufzuarbeiten, ist aber nicht die einzige Forderung der Bewegung Maria 2.0. In vielen Gemeinden brodelt es schon länger. »Jesus hat zwischen Frauen und Männern keine Unterschiede gemacht, aber die Amtskirche tut es«, sagt Elisabeth Mies. Frauen erledigten zwar den Großteil der ehrenamtlichen Arbeit in den Gemeinden. Das Priesteramt aber bleibe ihnen verwehrt. »Wir fordern gleiche Würde, gleiche Rechte für alle«, sagt Mies. Außerdem will Maria 2.0 das Pflichtzölibat abschaffen, eine »zeitgemäße Sexualmoral« und ein gleichberechtigtes Miteinander von Priestern und Laien. Die Bewegung missbrauche den Namen der Gottesmutter, ließ Kardinal Woelki nach Gründung von Maria 2.0 verlauten. Seither ignoriert er die Aktivistinnen weitgehend.

Anders ging die Bistumsleitung mit der Katholischen Hochschulgemeinde (KHG) um. Mitte November war die Website der KHG plötzlich abgeschaltet. »Eine Studentin rief mich an und sagte, wir seien im Netz nicht mehr auffindbar«, erzählt Martina Schäfer-Jacquemain von der KHG. Vorausgegangen war ein Streit um ein Positionspapier, das die KHG bereits im Mai 2019 online gestellt und später auch im Semesterprogramm abgedruckt hatte. In dem Papier wandte sich das Team unter anderem »gegen eine Unantastbarkeit amtskirchlicher Deutungshoheit«, eine »religiöse Aufladung von Macht« sowie eine »Engführung kirchlicher Sexualmoral.« Bevor das nächste Semesterprogramm erstellt werden konnte, zitierte die zuständige Hauptabteilungsleiterin im Generalvikariat drei Mitarbeiter des Teams zum Gespräch und untersagte, das Papier erneut abzudrucken. Der Kardinal und die Weihbischöfe seien erbost über das Handeltn der KHG. Doch über einen QR-Code im Heft waren die Forderungen der KHG weiterhin online abrufbar. Im Oktober schließlich wurden der Hochschulpfarrer und die Theologin Schäfer-Jacquemain als Leiter der Gemeinde abgesetzt, später dann die Website abgeschaltet. Inzwischen ist sie wieder online, jedoch ohne den Link zum Positionspapier.

»Das ist eine Zensur wie in totalitären Staaten«, sagt Schäfer-Jacquemain. Niemand aus der Bistumsleitung habe mit ihnen über die Inhalte gesprochen. Stattdessen habe es nur Drohungen gegeben. Sie ließen sich aber nicht den Mund verbieten. »Die Lebenswirklichkeit junger Christen ist so weit weg von der kirchlichen Lehre. Die Kluft wird immer größer.« Im Haus habe man immer liberale Positionen vertreten. »Irgendwann war klar: Das ist Doppelmoral, wenn wir Studierenden signalisieren, wir ticken da anders, und das aber nach außen nicht deutlich machen.« Bundesweit solidarisierten sich katholische Verbände und auch Maria 2.0 mit der KHG. Allein die anderen Hochschulgemeinden im Kölner Erzbistum sagten nichts dazu. »Da sieht man, wie viel Angst in diesem Bistum ist«, findet Schäfer-Jacquemain.

Während die KHG eine Welle der Solidarisierung  erfährt und auch Maria 2.0 immer mehr Zuspruch von Gemeinden und von anderen Verbänden erhält, sind sie jedoch mit ihren Forderungen noch keinen Schritt weitergekommen. Zwar werden Pflichtzölibat, katholische Sexualmoral und Frauenweihe beim sogenannten Synodalen Weg erörtert, einer Zusammenkunft von Bischöfen und Laien. Doch solche Fragen werden im Vatikan entschieden — und Papst Franziskus warnte bereits vor einem deutschen Sonderweg.

Dabei sollte das Reformprojekt, das Ende 2019 begonnen wurde und auf zwei Jahre angelegt ist, eigentlich die Kirche beflügeln. Auch für den Synodalen Weg war die MHG-Studie von 2018 der Anlass. Die Deutsche Bischofskonferenz beschloss, einen »Weg der Umkehr und Erneuerung« einzuschlagen. Konservative wie Woelki fürchten aber, dass hier zugleich eine Auflösung des eigentlichen katholische Glaubens einsetzen könnte, etwa wenn über den Zölibat, Frauen in Priesterämtern oder eine Liberalisierung der katholischen Sexualmoral debattiert wird. Woelki geriet bereits ein ums andere Mal mit dem bisherigen Vorsitzenden der Bischofskonferenz Kardinal Reinhard Marx aneinander. Marx — offenbar entnervt von internen Querelen — wollte Anfang des Jahres nicht mehr als DBK-Vorsitzender antreten.

Während Woelki den Synodalen Weg kritisch sieht, fordert Pfarrer Franz Meurer von der katholischen Kirchengemeinde in Höhenberg und Vingst, dass die Kirche sich ändern müsse. »Wenn man nicht dem nachgeht, was die Menschen bewegt, dann geht man weg vom Markt. In der alten Form sind wir ’ne sterbende Großorganisation.« Das belegt auch die Statistik: Dem Erzbistum Köln, der größten und einflussreichsten deutschen Diözese, laufen die Mitglieder fort. 2019 waren hier zwar noch rund 1,9 Millionen Katholiken registriert, doch jedes Jahr werden es zwischen 10.000 und 40.000 weniger.

Pfarrer Meurer ist fest davon überzeugt, dass Kardinal Woelki aufklären wolle. Er kennt Woelki noch aus Kindertagen, beide wuchsen in der Bruder-Klaus-Siedlung in Mülheim auf. Aber die Bischöfe seien eben auch überfordert, sagt Meurer. »Man kann nicht Jurisdiktion, Exekutive und Legislative an einer Stelle zusammenführen. Da wird nachgespielt, was früher im Kaisertum war. Das geht aber nicht mehr, ist vorbei!« Man müsse heute »proaktiv sein, agil leiten und so viel demokratisch machen wie es geht«, findet Meurer.  

Und was hört der Pfarrer in seiner Gemeinde über Woelki und den Missbrauchsskandal? »Unsere Leute sind eher traurig. Die sagen: Der Woelki, der machte doch so einen frischen Eindruck — und jetzt das!« Tatsächlich hatte Woelki, der Mitte 2014 in Köln Erzbischof wurde, anfangs für Aufsehen gesorgt, etwa, indem er eine Willkommenskultur für Flüchtlinge in den Gemeinden unterstützte oder die Glocken für ertrunkene Bootsflüchtlinge läuten ließ. Später dämpfte er die Hoffnungen auf eine Reform der Kirche, in dem er sich deutlich gegen Frauen in Weiheämtern und für den Zölibat aussprach. »Unser Kardinal ist fest davon überzeugt, dass man die Glaubensmitte verteidigen muss«, sagt Meurer. »Das hat vielleicht mit seiner Biografie zu tun, er war ja so gut wie verlobt. Er sagt selbst, er habe die Wende seines Lebens bei der Panzertruppe erfahren, wo alles passierte, von Drogenhandel und Alkoholismus bis zum Selbstmord. Dann wird er sich gefragt haben, was denn der Kern seines Lebens wohl sei. So stelle ich mir das vor«, sagt Meurer.

Seit mehr als vierzig Jahren ist Franz Meurer nun Priester. Damals sei Prävention noch kein Thema gewesen, sagt er. Aber das habe sich völlig verändert. Das Schutzkonzept in Hövi-Land, wie die Doppelgemeinde in Höhenberg und Vingst genannt wird, wurde ab Mai 2018 von einer Psychologin, einem jungen Lehrer und einem Pastoralreferenten entwickelt. Über ein Jahr lang wurden Gespräche mit den Gruppen in der Gemeinde geführt, um herauszufinden, wie und wo Kinder und Jugendliche möglicherweise gefährdet seien, erzählt Meurer. Es ging neben Prävention auch um Sensibilisierung für sexuelle Gewalt. Die Ehren- und Hauptamtlichen absolvieren zudem Präventionsschulungen, die im Erzbistum heute verpflichtend sind. In Hövi-Land sei ein Viertel der Haushalte überschuldet, erzählt Meurer. Es gebe überdurchschnittlich viel Alleinerziehende und Erwerbslose, und es gebe daher auch Kinder und Jugendliche, die Zuneigung suchten. Deshalb sei der Verhaltenskodex des Schutzkonzepts so wichtig, der sieht etwa vor, Treffen zu zweit zu vermeiden. Allerdings habe er in seiner Zeit noch nie von Fällen gehört, sagt Meurer. »Bloß einmal wollte ein älterer Mann bei den Pfadfindern hier mitmachen, da hab ich gesagt, wenn ihr den nehmt, dann bin ich weg!« Das sei ein Bauchgefühl gewesen, sagt Meurer. »Ein halbes Jahr später war der auf der Titelseite vom Express: Kindesmissbrauch, bei einer anderen Institution.«

Das Erzbistum Köln nimmt für sich eine Vorreiterrolle in Anspruch, was die Prävention sexueller Gewalt angeht. »Wo in früheren Jahrzehnten Betroffene oftmals noch nicht einmal angehört wurden, gibt es heute für den Erstkontakt unabhängige Ansprechpersonen, die zuhören und die den Betroffenen glauben«, sagt Malwine Marzotko. »Dann ist es meine Aufgabe, jedem Vorwurf nachzugehen und ein gerechtes Verfahren zu gewährleisten.« Die Psychologin und Theologin leitet seit einem Jahr die Stabstelle Intervention, die das Erzbistum Köln bereits 2015 einrichtete — als erstes Bistum in Deutschland. »Eine Kultur der Achtsamkeit« sei in allen kirchlichen Bereichen zu verzeichnen, sagt Marzotko. »In der Intervention wurden die personellen Ressourcen erhöht und der Beraterstab des Erzbischofs ist mit Experten für Intervention, Prävention, Psychologie und Recht erweitert worden.« Insgesamt hätten mehr als 100.000 Menschen im Erzbistum flächendeckend Präventionsschulungen durchlaufen, sagt ­Marzotko. »Durch all das können sich immer mehr Betroffene trauen, den erlebten Missbrauch zu melden, wodurch wiederum die Aufklärung und Aufarbeitung jedes Mal ein Stückchen weitergeht.«

Aber für Marzotko ist das noch nicht genug. »Die Kirche hat aus eigener bitterer und leidvoller Erfahrung gelernt und muss sich noch weiter verändern, damit Eltern ihre Kinder wieder voller Vertrauen zu Veranstaltungen der Kirche schicken können«, sagt sie. Mittlerweile erhalte sie Anfragen von staatlichen Stellen. »Die wollen sich über unsere bewährten Präventionskonzepte informieren. Dies zeigt, dass wir uns nach all den Versäumnissen der Vergangenheit besser aufstellen konnten.«

Die Hierarchie in der katholischen Kirche sieht Marzotko nicht als grundsätzliches Problem. »In der Vergangenheit mag zutreffend gewesen sein, dass Aufklärung und Aufarbeitung aufgrund der hierarchischen Struktur nicht möglich gewesen ist«, sagt sie. Aber das sei heute anders. »Mein Team und ich wurden mit den erforderlichen Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet, um unsere wichtige Aufgabe, so gut es geht erfüllen zu können.« Sie sei mit Durchgriffs- und Weisungsrechten ausgestattet sowohl um ein innerkirchliches Verfahren in Gang zu setzen als auch den Fall sofort bei der Staatsanwaltschaft zu melden, so Marzotko. Grundlage ist die »Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- oder hilfebedürftiger Erwachsener durch Kleriker und sonstige Beschäftigte im kirchlichen Dienst«. Das 15-seitige Papier wurde Ende 2019 von der Bischofskonferenz beschlossen. Jetzt werden unter anderem die Gespräche mit Betroffenen und Beschuldigten geregelt, und es heißt auch: »Wenn der Verdacht des sexuellen Missbrauchs nach staatlichem Recht nicht aufgeklärt wird, z.B. weil Verjährung eingetreten ist, jedoch tatsächliche Anhaltspunkte bestehen, die die Annahme eines sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen oder schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen rechtfertigen, haben sich die zuständigen kirchlichen Stellen selbst um Aufklärung zu bemühen.« Zudem sei die Öffentlichkeit »unter Wahrung des Persönlichkeitsschutzes der Beteiligten in angemessener Weise« zu informieren.

In der Vergangenheit war genau dies eben nicht gegeben. Rückblickend sieht Prälat Robert Kümpel, der von 1984 bis 1996 Personalchef im Kölner Erzbistum und ab 2008 Ansprechpartner für Betroffene von sexuellem Missbrauch war, einen nachlässigen Umgang der Verantwortlichen mit Tätern : »Ich hätte mich stärker dafür einsetzen müssen, dass wir viel strikter und konsequenter gegen diese Täter vorgehen«, sagte er zu Beginn des Jahres 2020 der Kirchenzeitung. Zwar seien auch damals nach Bekanntwerden eines Falls die Priester zu einem Psychotherapeuten geschickt worden, der dann begutachtet habe »ob und, wenn ja, wie und wo ein zukünftiger Einsatz möglich sein könnte.« Kümpel selbst habe zweimal vorgeschlagen, Täter direkt in den Ruhestand zu versetzen, das hätten Kollegen aber mit einem nachsichtigen Lächeln abgelehnt.

Peter Otten ist Pastoralreferent in der Gemeinde St. Agnes und ein Unterstützer von Maria 2.0. Auch er hat mit dem Betroffenenbeirat große Hoffnungen verbunden. Als Seelsorger hat er häufig mit Menschen zu tun, die Missbrauch erlebt haben. »Wer einmal so einem Menschen zugehört hat, ist kuriert.« Ihr ganzes Leben sei von dem Trauma geprägt. »Da muss es doch erst mal darum gehen, sich voll auf die Verletzungen des anderen einzulassen. Was der Betroffene sagt, ist Gesetz.«

Doch die Realität sieht anders aus. Auch wenn die katholische Kirche nach dem Bekanntwerden des Missbrauchsskandals 2010 am Canisiuskolleg in Berlin rasch angefangen hat, Präventionmaßnahmen auszuarbeiten und Mitarbeiter auszubilden, gibt es eine Leerstelle im Umgang mit den Betroffenen. »Die viel beschworene Augenhöhe gab es nicht. Von dem Gutachten über den Pfarrer A., der jahrzehntelang zwischen den Bistümern hin- und hergeschoben wurde, mussten wir aus der Zeitung erfahren«, sagt der Patrick Bauer, der den Betroffenenbeirat verlassen hat. »Das hat nichts mit Zusammenarbeit zu tun.« Die mangelnde Transparenz gipfelte darin, dass die Bistumsleitung die Betroffenen für ihre Zwecke überrumpelten und instrumentalisierten. Inzwischen fordert nicht nur Bauer, dass man der Kirche die Aufarbeitung entreißen müsse. »Man bittet ja auch nicht Volkswagen, den Dieselskandal aufzuklären.« Bauer fordert Wahrheitskommissionen nach angelsächsischem Vorbild, in der außenkirchliche Experten Einblick in die Akten bekommen und Beschuldigte aussagen müssen. Dieser Forderung unterstützt auch der Kölner Katholikenausschuss, in dem sich die Kölner Laien versammeln: »Täter und Vertuscher sollen endlich klar benannt werden« und  eine »kirchlich-unabhängige Wahrheitskommission« installiert werden. Doch die deutschen Gesetze lassen dergleichen zurzeit nicht zu. Auch Kirchenrechtler Thomas Schüller fordert hier eine parlamentarische Initiative, damit der Bundestag die Gesetzgebung ändere. »So kann es nicht weitergehen. Zum zweiten Mal werden schwerst traumatisierte Opfer missbraucht, ihre Wunden wieder aufgerissen.« Doch gerade die großen Parteien CDU und SPD wollen es sich mit den Kirchen nicht verscherzen, die ihnen mit ihren Kitas, Schulen und Krankenhäusern so viele Aufgaben im Bildungs- und Sozialbereich abnehmen.

Auch für Schüller steht fest, dass Kardinal Woelki mit seinem Amt heillos überfordert sei. »Es ist ein schmerzhafter Prozess, anzuerkennen, dass eine verehrte Generation von Bischöfen in diesem Bereich so schlecht dasteht. Das muss man aushalten können.«

Im Katholizismus ist das Osterfest zentral. Auferstehung, Neuanfang - das ist der Kern der Religion. »Wenn ein Bischof sich hinstellte und sagte: Ich habe einen Fehler gemacht. Ich nehme das auf meine Kappe. Das wäre ein Befreiungsschlag, ein Zeichen der Zuversicht!«, ruft Pastoralreferent Peter Otten. Wenn man ein religiöser Mensch sei, könne so etwas wie ein Amt doch nur eine relative Bedeutung haben. »In einer solidarischen Kirche muss einer fallen dürfen. Dann würde er doch aufgefangen, und alle wären stolz auf ihn.«

Patrick Bauer läuft weiter durch die Wahner Heide, die Motorsäge ist verstummt. Aus dem Kölner Betroffenenbeirat ist er zwar ausgetreten, doch im Beirat der Deutschen Bischofskonferenz engagiert er sich weiter. »Nur so kann ich meinen Stachel im Fleisch haben«, sagt er. Trotz der Enttäuschungen in Köln will er immer noch nicht glauben, dass Erzbischof Woelki ihn bewusst hinters Licht führen wollte. Er glaubt ihm bis heute, dass er eigentlich aufklären wollte. »Aber es hat sich gezeigt, er kann es nicht. Und deshalb sollten es andere tun.«