Nicht vor Ort gewesen: Symbolbild der Silvesternacht 2015/16 in vielen Medien, Foto: © Markus Böhm

Kein Schweigekartell

Heike Haarhoff hat die Berichterstattung zur Silvesternacht 2015/2016 wissenschaftlich untersucht

Frau Haarhoff, in der Silvesternacht 2015/2016 gab es mehr als 500 sexuelle Gewalttaten an Frauen. Uns Medien wurden danach Vorwürfe gemacht. Ja, einerseits wurde Medien vorgeworfen, dass sie aus falsch verstandener Political Correctness die Herkunft der mutmaßlichen Straftäter verschwiegen und damit ihre Informationspflicht verletzt hätten. Der ehemalige CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich sprach sogar von einem »Schweigekartell«, sobald es um Delikte von Migranten und Flüchtlingen gehe. Andererseits warf man den Medien vor, über die Herkunft berichtet und so zu Diskriminierung beigetragen und gegen den Pressekodex verstoßen zu haben.

Diese beiden Vorwürfe widersprechen sich natürlich. Sie haben drei Monate Berichterstattung in elf Zeitungen ausgewertet, darunter auch Kölner Stadt-Anzeiger, Kölnische Rundschau und Express. Welcher der Vorwürfe ist zutreffend? Keiner von beiden. Dem Publikum wurden keine Informationen vorenthalten. Die Kölner Medien haben schon an Neujahr online über sexuelle Übergriffe berichtet — unter Hinweis auf die Herkunft der mutmaßlichen Täter. Die überregionalen Medien haben ab dem 4. Januar nachgezogen. Man darf nicht vergessen, dass Neujahr ein Feiertag war, an dem gar keine Print­ausgaben der Zeitungen erschie­­nen, und an dem die Redaktionen schwach besetzt waren. Wegen der Nennung der Herkunft gab es viele Beschwerden beim Presserat, aber er hat keine Rüge ausgesprochen.

  

Wie wurde die Herkunft in den Artikeln beschrieben? 

Interessant ist, dass die Zeitungen die Herkunft in 84,4 Prozent der untersuchten Artikel thematisierten — unabhängig von ihrer Ausrichtung oder Verbreitung. Am häufigsten wurde die ethnische Herkunft erwähnt, also »nordafrikanisch« oder »südländisch«. Dies entsprach den Angaben der Polizei, aber diese Begriffe haben auch die betroffenen Frauen verwendet, wenn sie die Verdächtigen beschreiben sollten. Die Landeskorrespondenten haben wiederum oft den Aufenthaltsstatus der mutmaßlichen Täter thematisiert. Die Übergriffe fanden ja nach dem Sommer 2015 statt, als viele Geflüchtete nach Deutschland gekommen waren. Die politischen Korrespondenten interessierte die Frage, inwieweit die Silvesternacht Auswirkungen auf die Willkommenskultur und die Flüchtlingspolitik haben würde.

  

Die Herkunft der Verdächtigen hat in der Folge nicht nur zu Debatten über die Asylpolitik geführt, sondern es wurde in vielen Medien auch darüber spekuliert, ob die Herkunft die sexuellen Übergriffe erkläre. Sie haben Interviews mit den Reporter*innen geführt.  Warum glaubten diese, die Herkunft nennen zu müssen?

Sie haben gesagt: Wenn sexuelle Übergriffe aus einer so homogenen Gruppe begangen werden, dann ist die Nennung dieser drei homogenen Merkmale — Geschlecht, Alter und Herkunft — nachrichtenrelevant. Da müssen wir wahrhaftig abbilden, was Stand der Dinge ist. Und das tun wir unabhängig von tatsächlichen oder vermuteten Folgen, die die Berichterstattung haben kann. Das steht im Widerspruch zu Ziffer 12.1 des Pressekodex, die damals galt. Danach sollte die Herkunft oder Religion von Straftäter*innen regelhaft und unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Information nicht genannt werden. Es sei denn, diese hätten einen direkten Bezug zur Tat. Mittlerweile ist der Pressekodex geändert und ein »begründetes öffentliches Interesse« kann die Nennung der Herkunft legitimieren. Interessant war für mich: Obwohl der Pressekodex im Widerspruch zu journalistischer Handlungslogik und zu professionellen journalistischen Qualitätsstandards stand und steht, fanden die Journalist*innen den Pressekodex im Großen und Ganzen richtig und haben auch gesagt, sie würden sich daran orientieren. 

  

Gab es denn Selbstkritik unter den Journalist*innen, die Sie interviewt haben?

Insgesamt waren sie mit ihrer Berichterstattung zufrieden, wenn auch vielleicht nicht mit jedem Artikel. Kölner Stadt-Anzeiger, Kölnische Rundschau und Express haben ja auch den »Wächterpreis« für herausragende publizistische Leistungen verliehen bekommen. Aber einige haben gesagt, dass die heftigen Reaktionen auf ihre Berichterstattung sie getroffen haben. Sie haben daraus den Schluss gezogen, dass sie ihre Arbeit transparenter machen und besser erklären müssen, warum sie so berichten. Aber die Kölner Medien hat besonders geärgert, dass sie an Silvester 2015/2016 nicht vor Ort waren.


Heike Haarhoff hat über die Berichterstattung zur Silvesternacht 2015/2016 an der Ruhr-Universität Bochum promoviert. Nach 25 ­Jahren als Redakteurin bei der taz ist sie jetzt als Pressesprecherin und ­Autorin tätig.

Heike Haarhoff: »Nafris, Normen, Nachrichten«, Nomos Verlag, 414 Seiten, 89 Euro