Proteste in Teheran: Die Revolution frisst ihre Sprache

»Tod der Paprika!«

Andreas Hoesslis Filmessay reflektiert die Revolution im Iran 1979 und den Aufstand in Polen 1980. Dabei stellt »Der nackte König« zeitlose Fragen

Herr Hoessli, in »Der nackte König — 18 Fragmente über Revolution« befragen Sie ehemalige Mitglieder des polnischen Geheimdienstes, die Sie einst observieren ließen — warum gaben sie Ihnen damals das Pseudonym »Hassan«?

Das weiß ich nicht, aber es ist möglich, dass die Revolution im Iran die islamischen Länder damals auch den Polen näher gebracht hat. Ich war 1978 bis 1980 in Warschau, die Machthaber hatten eine gute Beziehung zum Iran. Der Schah kam 1977 mit seiner Gattin Farah Diba auf Staatsbesuch, dabei wurde ihm der Ehrendoktortitel der Unversität Poznan verliehen — und dann später wieder aberkannt. Die Revolution war also schon ein Thema. Kapuściński und andere wurden als Korrespondenten dahin geschickt.


Ryszard Kapuściński und sein Buch »Schah-in-schah — Eine Reportage über die Mechanismen der Macht und der Revolution« ist ein wichtiger Bezugspunkt für Ihre filmische Erkundung.

Ich hatte Kapuściński in den 80er Jahren auf Polnisch gelesen und erneut 2010, als seine Biografie erschien. Uns beiden ist die Sprache sehr wichtig: Wie spricht man über das Geschehene? Wie gehen Ereignisse in Erinnerungen über? Emotionale Ereignisse lassen sich nicht so einfach in Sprache niederlegen und können verschwinden. Sehr schnell geht die Sprache darüber verloren, und es wird von der neuen Macht eine neue Art offizieller Sprache geschaffen und vorgeschrieben, wie über eine Revolution gesprochen wird.


Deshalb befragen Sie sehr intensiv das filmische Archivmaterial zu den Ereignissen — auch dessen Entstehungsprozess.

Fast ein Wunder, dass die polnische Parteispitze am 20. August 1980 grünes Licht gab, sodass das Dokumentarfilmstudio in Warschau nach Gdansk fahren durfte, wo die Werftarbeiter streikten. Michal Bukojemskis 35mm-Schwarzweiß-Film »Arbeiter 80« lief in fünfzig Kinos und zog ein Massenpublikum an, obwohl in den Zeitungen »private Vorstellungen« angekündigt wurden. Der Geheimdienst hatte, wie vor kurzem erst bekannt wurde, Kopien des gesamten gedrehten Negativmaterials, um die Streikenden identifizieren zu können. Nach Verhängung des Kriegszustands im Dezember 1981 verschwanden sämtliche Vorführkopien und kamen erst 1990 wieder an die Öffentlichkeit.


Im Iran ist der Umbruch in den Bildern deutlicher sichtbar.

In Polen haben die Streikenden bewusst entschieden, in den Fabriken zu bleiben. Denn zehn Jahre zuvor hatte die Armee in den Straßen auf demonstrierende Arbeiter geschossen. In Iran fand alles auf der Straße statt — und Kameramänner des Kulturministeriums verwendeten das Equipment des Ministeriums für aufwendige Drehs der revolutionären Ereignisse — schon zu der Zeit, als der Schah noch an der Macht war. Die Macht begann also schon Monate vor dem Sturz der Schah-Diktatur  zu zerbröckeln.


Dann etabliert sich mit den revolutionären Gegebenheiten auch schnell eine neue Sprache.

Die Sprache der Revolution hat etwas Abgeschlossenes und Verteidigendes — die Sprache der Macht. Masoumeh Ebtekar, die Vizepräsidentin, mit der ich einen guten persönlichen Kontakt hatte, gibt ja in unserem Gespräch zu verstehen, dass sie nicht alles über ihre damalige Rolle als Besetzerin der US-Botschaft sagen kann — das würde als Verrat an der Revolution angesehen. Diese Momente haben mich am meisten interessiert.


Sie filmen ein zentrales Event der Islamischen Republik Iran — die alljährlichen Revolutionsfeierlichkeiten Anfang Februar.

Seit 2002 habe ich fünfmal daran teilgenommen — es ist eine Art Picknick, wo die Teilnehmer kostenlos mit Bussen zum Platz chauffiert werden. Mir als Fremden ist man dabei unglaublich freundlich begegnet. Nur ein kleiner Teil hat die offizielle Sprache in sich integriert, darunter die Teilnehmenden des Iran-Irak-Kriegs. Diese Sprache ist zu einem Ritual geworden. In einer Szene werfe ich jungen Soldaten, die den Slogan »Tod Amerika!« schreien, die absurde Parole »Tod der Paprika!« zu, und sie skandieren diese dann auch tatsächlich.


Die Überwindung von Angst wird als wichtiger Moment im Schritt zur Revolution genannt.

Dies ist auch ein gemeinsames Thema von Kapuściński und mir. Ein Protagonist, Parviz Rafiei, erzählt von einem inhaftierten Freund, der seine Hinrichtung einer Freilassung vorzog, weil er sonst von der Gesellschaft als Kollaborateur verdächtigt, gemieden und verachtet worden wäre. Rafiei spricht von der Angst, als jemand anders gesehen zu werden als der, der man ist. Das bedeutet den Verlust der Identität. Überwindung der Angst erlaubt, zu sich, zu seinem Menschsein zu kommen. Das Thema Angst ist auch ein Thema der Gegenwart, wenn wir etwa nach Hongkong schauen, wo den Demonstranten langjährige Gefängnisstrafen drohen.


Sie haben bei der bisherigen Kinoauswertung — in Deutschland war es wegen Corona bislang schwierig — viele Publikumsgespräche geführt. Wer hat sich daran beteiligt?

Der Film ist ja in der Gegenwart erzählt, er ist keine historische Dokumentation. Das ermöglicht es auch, die Geschichte anders zu denken,  und da können Jüngere anknüpfen, die noch nie von Khomeini, Jaruzelski oder dem Schah von Persien gehört haben. Die Fragen der Jungen zur Macht heute sind interessant. Jede einzelne Generation geht da neu heran. 


Ihre erzählte Gegenwart wirkt zeitlos, auch durch poetische Passagen mit menschenleeren nächtlichen Szenerien. Zielt das auf die Textur von Erinnerung allgemein ab? Mich hat interessiert: Was macht die Zeit mit der Angst, mit den Sehnsüchten?

Und nächtliche Szenerien — mich interessieren auch diese Übergänge zwischen Tag und Nacht. Der Film beginnt und endet ja mit der Erzählung eines Traums. Das ist wohl die persönlichste Perspektive überhaupt.

Der nackte König — 18 Fragmente über Revolution CH/PL/D 2019, 108 Min., Kinostart: 11.2. Sollte der Lockdown länger dauern, läuft der Film ab 11.2. online auf shop.koenig.wfilm.de

Andreas Hoessli

Hoessli, Jahrgang 1950, arbeitete als Osteuropa-Korrespondent für Schweizer Zeitungen und als Auslandsreporter des Schweizer Fernsehens. Seit 1990 ist er freier Autor von Dokumentarfilmen und Reportagen für Fernsehen und Kino.