Mit Speedo am Pool: Geile Aussichten

»Vento Seco«

Daniel Nolasco beweist guten Geschmack und viel Sinn für Feinheiten

Die Region Goiás im Mittelwesten Brasiliens ist zu großen Teilen Niemandsland und von langen Dürreperioden und heißen Winden geprägt. Das Wetter beeinflusst in Daniel Nolascos großartigem Spielfilm »Vento Seco« aber nicht nur Flora und Fauna, sondern auch die Bewohner des Landstrichs. Sandro (Leandro Faria Leo) führt hier ein Leben zwischen Arbeit im Agrarwerk, Schwimmen im Freibad und Puzzle-Abenden allein zu Hause. Doch unter der Oberfläche des monotonen Alltags brodelt das Verlangen, der Blick des Mittvierzigers giert nach den eingeölten Typen in Speedos am Pool, oder Sandro verliert sich in surrealen Fetischfantasien mit Leder-Kerlen und SM-Szenarien. Hin und wieder trifft sich Sandro mit seinem Kollegen Ricardo (Allan Jancito Santana) zu unverbindlichem Sex im Wald. Dann wieder geht er Cruisen auf der Suche nach anonymer Unterwerfung und Entladung. Aber mehr will er nicht oder traut sich nicht. Sandro ist gefangen in Einsamkeit und Melancholie. Bis mit Maicon (Rafael Theophilo) ein Neuer in der Kleinstadt auftaucht, eine fleischgewordene Sexfantasie in Motorrad-Leder-Outfit, mit Schnurrbart und verspiegelter Sonnenbrille. In Maicon spiegelt sich Sandros Begehren ebenso wie seine Selbstwahrnehmung als nicht den gängigen Schönheits­idealen entsprechender schwuler Mann mittleren Alters mit Bauchansatz.

»Vento Seco«, der vor einem Jahr auf der Berlinale Premiere feierte, strotzt vor Sex und ist bisweilen explizit, auch in der Darstellung von Körperflüssigkeiten. Der Film feiert den Schmutz und das Obszöne und ist dabei eher irritierend unverschämt als vulgär. »Vento Seco« spielt mit schwulen Ikonografien der Film- und Kunstgeschichte von David Hockney über Pierre et Gille bis Tom of Finland. Die Leder-Bar ist nach dem Pornostar Al Parker benannt. Für bad taste braucht man guten Geschmack, wusste schon Trash-Papst John Waters. Und Nolasco kennt die feinen Unterschiede und beweist schillernden Witz, wenn er etwa die stilisierten Bilder mit Bruce Springsteens »I’m on Fire« als ironische Brechung untermalt und die Hypermaskulinität seiner Figuren damit als Maskerade entlarvt. Nolasco liebt diese Welt zugleich, wie er vor diesem Spielfilmdebüt bereits in Kurzfilmen und der preisgekrönten Dokumentation »Mr. Leather« über die brasilianische Leder-Szene gezeigt hat. Dank der außergewöhnlichen Ästhetik und unverbrämten Sexualität ist Nolasco nun mit »Vento Seco« einer der aufregendsten und kompromisslosesten Queer-Filme der vergangenen Jahre gelungen.

(dto) BRA 2020, R: Daniel Nolasco, D: Leandro Faria Lelo, Allan Jacinto Santana, Renata Carvalho, 110 Min., Verfügbar als VoD bei Vimeo und auf DVD