Schonungsloser Blick auf autoritäre Politik: Cemile Sahin, Foto: Paul Niedermayer

Harte Cuts, rauer Ton

Cemile Sahin erzählt von der Gewalt autoritärer Regime

Ein Hochhaus im Westen der Türkei ist die letzte Zuflucht für die ­Menschen in Cemile Sahins zweitem Roman »Alle Hunde sterben«. Vom Staat als »Terroristen« verfolgt, werden sie durch das Regime ­sys­tematisch terrorisiert. Die Gewalt, sie beginnt in Sahins Roman nicht erst mit Verschleppung und Folter, sondern, wie so oft, mit Denunziation: »Mein Vater, meine Schwester und mein Bruder verschwanden nicht mit Soldaten, nein. Sie verschwanden mit anderen Männern. Männer in diesem Land haben oft solche Berufe. Wir sagen: Spitzel. Sie sagen: Terroristen. Ich sage: Das ist Gewalt in ihrer schlimmsten Form.«

»Dieses Land«, das die Autorin beschreibt und nur ein einziges Mal benennt, steht stellvertretend für einen repressiven Staatsapparat, der seine Gesellschaft kategorisch spaltet: in Vaterlandsliebende und Vaterlandsverräter. Der Bezug zum kurdisch-türkischen Konflikt liegt nahe, nicht zuletzt wegen Sahins Herkunft als Tochter kurdischer Flüchtlinge. Doch wie bereits in ihrem Debütroman »Taxi« nennt die 1990 geborene Autorin weder die Orte der Kriegsverbrechen beim Namen noch arbeitet sie als multimediale Künstlerin mit einer linearen Erzählstruktur. Stattdessen werden die Figuren fast schon szenisch eingeführt und berichten in neun Episoden allein anhand konkreter Erinnerungen von ihren Schicksalen.

Sahins Protagonist*innen erleben systematischen Terror durch Vertreibung, Folter, Verrat und Verlust. Da wäre zum Beispiel Murat, der mit den ausgegrabenen Überresten seiner Mutter in einer Plastiktüte flieht; Umut, der sein Haus anzündet, bevor es die Soldaten tun; oder Necla, die von einem Wachmann in einer Hundehütte angekettet wird. Sie alle gelangen vom Osten des Landes zum 17-stöckigen Hochhaus im Westen, wo sie nicht bleiben wollen, aber warten — wachsam wie die Hunde — auf verschleppte Angehörige, auf staatlich Autorisierte, die sie selbst mitnehmen, oder auf einen Moment der Rache.

»Realität funktioniert in diesem Land nur über Gewalt«, heißt es in »Alle Hunde sterben«. Und wenn Gewalt die einzig gemeinsame Sprache ist, dann muss man ihre Geschichten erzählen. Cemile Sahin gelingt das sehr beeindruckend. Die raue, direkte Sprache durchzieht den Text mit harten Cuts, die das Narrativ überhaupt erst für eine multiperspektivische Erzählweise öffnen und Raum für diejenigen Stimmen schaffen, die ansonsten kein Gehör finden. Der Letzte, der schließlich am Hochhaus ankommt, ist Devrim. Übersetzt lautet sein Name: Revolution.

Cemile Sahin: »Alle Hunde sterben«, Aufbau, 239 Seiten, 20 Euro