Das Ende ist nah – Teil 2

 

Da kommt man ins Sinnieren

Rolf Kistenich, Club-Betreiber

 

Am 12. März hatten wir im Blue Shell unser letztes ­Konzert, ein Showcase mit anschließendem Meet & Greet, wir hatten 150 Karten verkauft, nur noch 90 Leute waren gekommen. Da wussten wir schon längst, dass da was angerollt kommt. Als erstes habe ich dann mit unserem Vermieter gesprochen und um eine Mietstundung gebeten — und die haben wir zugestanden bekommen. Das lief gut für uns, da kenne ich ganz andere Geschichten. Wir waren super aufgestellt, hatten kurz vorher renoviert, neue Boxen bekommen, waren das gesamte Frühjahr über ausgebucht. Und dann der Lockdown: Wir haben mit drei Monaten gerechnet. Damals schien mir das endlos.


Die Zeit mit meiner Frau Susanne war wunderbar. Wir kannten das schon gar nicht mehr, soviel Zeit zusammen verbringen. Susanne arbeitet hier im Blue Shell mit, sie betreut die internationalen Bands, weil sie einfach viel besser Englisch spricht als ich. Wenn der Laden läuft, sind wir bis weit nach Mitternacht hier, am nächsten Tag schon wieder mittags, nachmittags rein, aufräumen, Bands begrüßen, Soundcheck, da bin ich froh, wenn ich meiner Frau mal im Flur begegne. In der ersten Lockdown-Zeit bin ich auch noch 60 geworden, seit 1994 mache ich das Blue Shell, zehn Jahre möchten wir  es noch machen. Da kommt man ins Sinnieren. Und ich bin zum Musikhören gekommen. Ich konnte endlich mal in Ruhe LPs und CDs hören, das schaffe ich sonst gar nicht mehr, Musik kenne ich sonst nur noch von der Bühne. Damals habe ich ganze Tage damit verbracht, Musik zu hören.


Das Blue Shell war mal eine Kneipe, jetzt ist es ein Club. Ich tue mich selber schwer mit dem Wort, aber so ist es: Wir leben von den Veranstaltungen, von den Konzerten und Partys, fünf Tage die Woche mindestens. Das hat lange gebraucht, bis wir das etabliert haben und nicht mehr als Ort zum Rumhängen angesehen werden. Wir hätten zwischen den Lockdowns im August und September wieder öffnen können: 35 Leute mit Abstand an Tischen platziert, keine Live-Musik. Nee, habe ich zu Susanne gesagt, das bringt doch nichts, das widerspricht total der Idee unseres Ladens.


Mit dem Blue Shell habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht, ich war vorher Elektriker bei Dynamit Nobel
in Niederkassel. Seit 1984 bin ich in Köln, war aber schon vorher als DJ unterwegs, im Jugendheim in Niederkassel, dann in Troisdorf und Bonn, seit ich 14 bin. In Köln hieß das für mich: bis ein Uhr auflegen, länger ging es ja früher nicht, sechs Uhr aufstehen, sieben Uhr auf Arbeit. Nein: 6:57 Uhr, bis dahin musste ich gestempelt haben, das war immer ein wilder Ritt mit meinem Ford Granada, an der Pforte bin ich rausgesprungen und habe gerade noch die Zeit geschafft. Die Pförtner haben geklatscht. Wenn ich damals nicht ins Blue Shell eingestiegen wäre, hätte mich das mein restliches Leben lang verfolgt. So war das. Meine Familie hat gestöhnt: die Festanstellung, die Rente, Junge, was machste bloß! Aber es gab damals diese günstige Gelegenheit. Wir hatten über Jahre Riesenstress mit dem Ordnungsamt, es gab Regelun­gen wie: nur ein Plattenspieler im Laden und 20 Platten. Absurd, nicht nachvollziehbar! Das Kulturamt hat uns nach Kräften unterstützt, Manfred Post und jetzt Till Kniola machen eine Spitzenarbeit, halten uns den Rücken frei. Und so kommt es, dass wir heute ganz gut dastehen. Naja — heute vor einem Jahr, bis Corona kam. Ich habe mich damals mit meiner Frau unterhalten und wir beide waren uns einig: Wenn wir auf die letzten 25 Jahre zurückschauen, war doch alles schön!


Die Zeit vor Corona ist vorbei — das ist Geschichte. Also nicht zurückschauen, nach vorne. Mir ist schon bewusst, dass wir, also wir Clubs, Konzerthallen und Kneipen, in diesem Jahr die letzten sein werden, die regulär öffnen dürfen. Aber ich bin mir sicher, wenn es dann soweit ist, wird die Anlaufphase kurz ausfallen: Die Leute wollen doch wieder raus und eng gedrängt vor der Bühne stehen. Das wird zunächst nicht mit Bands aus Übersee gehen, das denke ich auch. Das wird die Zeit der Locals, an guten Bands mangelt es Köln nicht. Da müssen wir uns keine Sorgen machen.

Protokoll: Felix Klopotek

Rolf Kistenich
Das Blue Shell gibt es seit 1979 und war von Anfang an Teil der Kölner Punk- und Undergroundkultur. Gemeinsam mit dem Rose Club (heute Veedel Club) und dem Luxor bildet es das legendäre Bermuda Dreieck, das in den 80er und 90er Jahren die Club-­Szene Kölns prägte. Rolf Kistenich ist seit 1994 Geschäftsführer.
blue-shell.de

 

 

 

Die Musik kam später wieder

Laura Totenhagen, Sängerin und Komponistin

 

Mit dem ersten Lockdown kam­ ich in eine Lage, wo ich einfach nur rumhing, wo ich plötzlich loslassen konnte, es war wie ein großer, leerer Raum. Und in so einer Lage bin ich eigentlich — nie. Ich kenne das nicht. Bis Anfang Februar hatte ich volles Programm, ich spielte mein Masterkonzert im Stadtgarten, Ende 2019 hat mein Quartett Totenhagen seine zweite CD ­veröffentlicht, und wir haben direkt danach ausgiebig getourt.
Der Lockdown stieß mich auf die Frage: Was begeistert mich eigentlich? Ich habe viel feministische Literatur und viele Dichterinnen gelesen, ich habe gemerkt, wie wichtig mir das eigentlich ist, wie sehr sie mich inspirieren. Ich habe da neue Vorbilder entdeckt und wollte weg von allem, was als typisch männlich eingeordnet wird, wovon so viel schon präsent ist. Ein heftiger Impuls war auch die »Black Lives Matter«-Bewegung — mir war klar, wie oberflächlich ich mich vorher damit auseinandergesetzt habe, und dann wollte ich lesen, viel lesen: Tupoka Ogette, Angela Davis, Natasha Kelly, Roxane Gay, bell hooks — schwarze, feministische Literatur. Oder die Graphic Novels von Liv Strömquist. Gehört habe ich Sofia Jernberg. Solange Knowles, FKA Twigs, Phoebe Bridgers, Laura Marling und viele, viele mehr. Ich kannte sie schon v­orher, hörte sie aber jetzt mit anderen Ohren. Außerdem habe ich Metal wieder entdeckt.


Zum Jahresbeginn 2020 hatte ich das Gefühl, extrem überarbeitet zu sein: Was ich bis dahin gemacht habe, war für mich zu einem Ende gekommen, ich war auch genervt von mir selbst — aber das war mir noch gar nicht bewusst, es gab ja immer einen nächsten Termin, einen nächsten Auftritt. Mir kam es vor, als würde ich gar nicht mit meiner eigenen Stimme singen, sondern mit etwas, was ich mir angelernt habe, was irgendwie von außen kommt.


Und dann saß ich da, habe nichts gesungen, saß nicht am Klavier, habe auch nichts geschrieben. Gar nichts. Ich hatte auch nichts zu sagen. Und es hat mich nicht gestört. Die Musik kam später wieder. Ende April hatten wir einen Streaming Gig mit Totenhagen im Sendesaal des WDR, und ich dachte mir: Wow, das wird heavy, diese krassen Stücke wieder zu singen. Ich habe mich der Musik über ihre performative Seite genähert, habe mir da einen anderen Zugang erarbeitet, das war schon ein Schritt in eine neue Richtung. Ich bin im Lockdown durch die Texte, die ich gelesen, und die Musik, die ich gehört habe, zu der ­Einsicht gekommen, dass mir vieles in meiner bisherigen Arbeit so konstruiert vorkommt, so wenig mit mir zu tun hat. Es inspirierte mich, den Mut zu zeigen, das, was mich beschäftigt, ungefilterter zu bearbeiten. Ich habe gemerkt, wie sehr ich die Musik brauche, um Dinge, die um mich herum passieren, auch sehr persönliche, zu verarbeiten. Das war früher selten der Fall. Dass ich über Sachen nachdenke und sie dann in Musik packe — das habe ich mich vorher gar nicht getraut. Doch — als Teenager, aber das ist schon länger her ... Durch die Ausbildung bin ich sehr an Formen und Stilmittel gebunden gewesen, die Akademisierung hat die Intuition verdrängt, als hätte ich meine Direktheit verloren.


Mir wurde klar, dass ich viel mehr Raum brauche und mich auch selber ernster nehmen muss, in dem was ich mache. Das hört sich vielleicht arrogant an, meine es aber gar nicht so, es ist eine existenzielle Sache. Ich muss mir selber zugestehen, Musik zu schreiben und zu spielen, die mir etwas bedeutet. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Ich wurde eigentlich nie gefragt, was mich an Musik brennend interessiert, was ich unbedingt ausdrücken will. Also habe ich mich das selber nicht mehr gefragt. Ich habe die Entscheidung getroffen, innezuhalten, zu prüfen, was spiele ich da eigentlich. Eine gewisse Naivität — die kam wieder.
Es ist nichts passiert, erst ab September habe ich angefangen, neue Stück zu schreiben. Es gibt Kompositionen, an denen arbeite ich jetzt schon drei Monate, ist mir früher nie passiert. Aber es ist in Ordnung, ich muss keinen Dauer­output mehr haben, das ist eingeredeter Druck. Da haben mich viele Kolleginnen bestärkt. Das ist eine schöne Erfahrung, ich lerne dadurch, offen mit meinen Stücken umzugehen, sie nicht fix und fertig präsentieren zu müssen.


Protokoll: Felix Klopotek

Laura Totenhagen
Jahrgang 1992, hat an der ­Kölner Musikhochschule ­studiert und steht mit ihrer Band Totenhagen und dem Vokalquartett Of ­Cabages im Zentrum der ­Kölner Jazz-Szene. Sie ist Dozentin für Jazz-Gesang an der Hochschule Osnabrück.
lauratotenhagen.de