Zwischen den Stühlen: Samuel H. Levine als David

»Minjan«

Eric Steels Porträt einer schwulen Jugend spielt in einem längst verschwundenen New York

New York, Ende 1986. Der Stadtteil Brighton Beach zwischen Hochbahn und Atlantik ist laut und dreckig, ein Einwandererviertel, noch völlig ungentrifiziert. Hier lebt der 17-jährige David (Samuel H. Levine), ein schüchterner, ernsthafter Junge, zwischen allen Stühlen. Seine Eltern sind gläubige Juden, die aus Russland emigriert sind und einmal große Träume hatten, sich ein neues Leben aufzubauen, aber in alten Mustern feststecken. Der Vater (Brooke Blum) war erfolgreicher Boxtrainer und schlägt sich nun als Masseur für Damen durch. Die Mutter (Gera Sandler), ausgebildete Zahnärztin, darf hier nicht praktizieren und verdingt sich als Arzthelferin einer kleinen Praxis. Sie tut so, als bemerke sie die Affären ihres Ehemanns nicht. Das Geld ist knapp, und als Davids Oma verstirbt, soll sein geliebter Großvater Josef (Ron Rifkin) in eine Seniorenresidenz, weil die Wohnung mit der kleinen Rente nicht mehr zu halten ist. Doch die Chance auf ein Zimmer im jüdischen Altersheim ist mit einer Verpflichtung verbunden: bei den Gottesdiensten sind zehn Männer erforderlich, um eine Betgemeinschaft, den Minjan, zu bilden, und so nimmt David seinem Opa zuliebe daran teil.

Allerdings fremdelt David mit den strengen Vorschriften der Gemeinde und den antiquierten Vorstellungen seiner Eltern. Bevor er Freunde trifft, zapft er sich heimlich etwas vom Wodka ab, den er im Küchenschrank findet, und füllt die Flasche mit Wasser wieder nach. Der Alkohol macht ihn nur bedingt locker, so richtig gehört er auch in der Clique nicht dazu, wenn seine Kumpel Mädchen anbaggern. Von seiner Homosexualität ahnt nicht einmal sein bester Freund und heimlicher Schwarm etwas, auch die ersten Ausflüge in die Schwulenszene behält David wie so vieles für sich.

Der Dokumentarfilmregisseur Eric Steel (»The Bridge« über die Suizide an der Golden-Gate-Brücke) verbindet in seinem Spielfilmdebüt eine Kurzgeschichte des kanadischen Schriftstellers David Bezmozgis mit eigenen Erfahrungen als junger Mann — wie David ist er schwul und Nachfahre von Holocaust-Überlebenden –, als er in den 1980er Jahren nach New York kam und miterleben musste, wie eine ganze Generation von AIDS dahingerafft wurde. Steel und Kameramann Ole Bratt Birkeland finden dafür atmosphärisch-melancholische Graubraunbilder, die das Beklemmende und die Verzweiflung dieser Ära widerspiegeln. Dazwischen aber gibt es leise Schimmer der Hoffnung. Im Seniorenheim lernt David zwei Witwer kennen, Itzik (Mark Margolis) und Herschel (Christopher McCann), die sich im Alter wie selbstverständlich eine Wohnung teilen, in der es nur ein Schlafzimmer mit Ehebett gibt und im Bad zwei Zahnbürsten im selben Becher stehen. Öffentlich geredet wird darüber freilich nicht, die Gemeinde schaut weg. Die drei Männer entwickeln eine ungewöhnliche Freundschaft — und David lernt einen Lebensentwurf jenseits seiner engen Welt kennen. Vorsichtig, aber bestimmt wagt er Schritte in ein selbstbestimmteres Dasein, jenseits des Einflusses seiner überfürsorglichen Mutter und des autoritären Vaters.

Steels Drama ist keine klassische Coming-Out-Geschichte, sondern das sensible und vielschichtige Porträt einer schwulen Jugend zwischen Familientraditionen und Glaubenskonflikt, Bedrohungen von außen und der Suche nach der eigenen Identität, dem Platz im Leben. Ein Film der kleinen Gesten, fast durchgängig hervorragend gespielt, bei denen in Alltagssituationen unausgesprochen persönliche Verletzungen und kollektive Traumata mitschwingen. Zugleich reflektiert er ein längst verschwundenes New York während der AIDS-Epidemie. Die Parallelen zu den emotionalen Verheerungen der Überlebenden der Holocaust-Generation deutet Steel nur an, ohne den Fehler zu begehen, die beiden Katastrophen gleichzusetzen. Ein leiser, kluger Film voller Empathie, der lange nachhallt.

(dto) USA 2020, R: Eric Steel
D: Samuel H. Levine, Ron Rifkin, Christopher McCann
118 Min., online verfügbar auf queerfilmnacht.de