Räume, Brücken, Freiheiten

Das Kölner Zentrum für Alte Musik fördert junge Ensembles — und einen wichtigen Prozess des Nachdenkens über Musik

»Artists in Residence 2021«, das klingt in diesen Wochen und Monaten unfreiwillig komisch. Denn »in Residence« sind doch sowieso derzeit alle Musikerinnen und Musiker, Touren und Auftritte fallen auf unbestimmte Zeit aus, auch Arbeit im Studio findet kaum statt, denn Alben werden für gewöhnlich auf Touren promotet. Also residieren die Künstler zwangsläufig — zu Hause.

Das Kölner Zentrum für Alte Musik (zamus) hat aber tatsächlich ein »Artis in Residence«-Programm ausgerufen, es nennt sich »zamus: advanced« und verfolgt einen strukturellen Ansatz: Junge Ensembles sollen auf den verschiedensten kreativen Feldern — vom Marketing und der Öffentlichkeitsarbeit, Selbst-Management bis zum Kontakt zu Veranstaltern — unterstützt werden, damit ihre Musikaufführungen sichtbar und hörbar bleiben. Dahinter verbergen sich grundsätzliche ästhetische Fragen, denn natürlich ist Alte Musik längst kanonisiert und wird gefördert, wird aber von einer breiten Öffentlichkeit immer noch häufig auf die Epoche von Johann Sebastian Bach reduziert und an die spätere Klassik gekoppelt. Eine Rezeption, die dem Selbstverständnis der jungen Ensembles diametral entgegengesetzt ist. »Alte Musik ist kein Vorläufer von irgendwas«, widerspricht denn auch Lukas Henning. »Diese Erkenntnis war für mich als Musiker entscheidend. Natürlich wird heute gesagt, um Mozart wirklich zu verstehen, müssen wir in die Vergangenheit gehen. Aber es bleibt die Perspektive der Klassik, die da eingenommen wird. Meine Haltung ist das nicht. Selbst Bach ist mir ein bisschen ›zu spät‹. Wie traurig ist es denn, wenn man sagt, dieses Stück von Guillaume de Machaut hat den Weg geebnet für die Lieder von Monteverdi. Das sind doch keine Durchgangsstationen! Die Musik war jeweils auf dem höchsten Niveau ihrer Zeit, sie bebildert keinen linearen historischen Prozess.« Der Lautenspieler Henning hat ein Duo mit der Sängerin Carine Tinney, beide sind sie Teil von »zamus: advanced«, wie auch Lo Desconcert, das Duo von Sara Cubarsi und Carles Marigó (Barockvioline und Keyboards), und das achtstimmige, solistisches Vokalensemble The Present.

»Die Liebe zur Alten Musik und die Einsicht, dass sie mir emotional und künstlerisch viel näher ist, hat sich für mich erst im Berufsalltag ergeben. Es war wie ein Befreiungsschlag, ich hatte das Gefühl, ich kann jetzt einfach Musik machen, auf einmal war die Freiheit da. Ich schleppe nicht mehr so einen riesigen Ballast von Konventionen aus dem 19. Jahrhundert mit mir herum. Keine Erwartungen, keine falschen Ansprüche an die Stimme«, sagt Hanna Herfurtner von The Present — und dürfte damit einen Nerv dieser jungen Ensembles getroffen haben. Für sie alles geht es nicht vordergründig darum, Konzerte zu organisieren oder eine bessere Pressearbeit zu machen, sondern die Autonomie ihrer Kunst herauszustreichen. Deshalb ist der Begriff Alte Musik eigentlich schon obsolet — eine Schöpfung der Nachkriegszeit, als die Neue Musik sehr präsent war und ein analog gebildeter Begriff Aufmerksamkeit versprach. Obwohl das Schlagwort von der Alten Musik gut eingeführt ist und immer noch verwendet wird, überwiegen mittlerweile die Zweifel, ob es künstlerische, musikalische Positionen der Renaissance- und Barock-Zeit adäquat widerspiegelt. Heute ist historisch korrekter von Early Music die Rede, ein Begriff, der sich in den nächsten Jahren — hoffentlich — durchsetzen wird.

Die prinzipielle Haltung von Henning unterstützt auch Hanna Herfurtner: »Es fängt ja schon mit den Bezeichnungen an: Der Begriff klassische Musik wird meistens mit der Epoche von Mozart bis Strauss gleichgesetzt. Die Musik davor und danach bekommt dann so spezielle Namen — es ist die Neue Musik, oder eben die Alte beziehungsweise Early Music. Das sind für mich Indizien, dass diese Musiken immer noch als Nischenphänomen angesehen werden. Von der Sache ist das natürlich nicht haltbar, aber in der öffentlichen Wahrnehmung gilt immer noch dieses Klischee. Wir drehen das um und fragen uns, ob diese angeblich randständigen Musiken nicht in Wirklichkeit gut zusammengehen.« The Present folgt dieser Fragestellung in der Tat radikal: Sie kombinieren die Epochen, singen Programme, in der zeitgenössische Musik neben barocker steht, verzichten auf Hierarchien oder starke Behauptungen über vermeintlich zwangsläufige musikalische Entwicklungen. »Ziel bleibt, die Musik selbst in den Mittelpunkt zu stellen, das klangliche Ereignis«, sagt Olivia Stahn von The Present. »Das kann man aber nur, wenn man ein bisschen freier denkt und die Kategorien außer Acht lässt. Der Klang soll für sich selbst sprechen, und dadurch wird es dem Publikum im besten Fall möglich, eine neue Perspektive darauf zu entdecken.« Sie verweist auf einen Abend, wo sie die achtstimmigen Motetten von Bach mit Stücken von Lucian Berio, die in den 1970er Jahren entstanden sind, kombinierten. Olivia Stahn: »Es ist ein Aneignungsprozess. Wir sind uns bewusst, dass wir aus dieser Musik das übernehmen, was wir gerne haben wollen. Wenn wir die Motten von Bach aufführen, wissen wir, dass es geistliche Musik ist. Wir versuchen aber nicht, uns in die Spiritualität Johann Sebastian Bachs zurückzuversetzen.«

Noch so ein Missverständnis, das mit Early Music assoziiert ist: Denn das, nun ja, klassische Aneignungsmedium dieser Musik war und ist die »historisch informierte Aufführungspraxis«, meint: Verwendung von Originalinstrumenten, Recherchen über die damalige Aufführungspraxis, um etwa die Stücke nicht in einem falschen Tempo zu spielen. Diese Kontextualisierung, die immer auch Gefahr läuft, zum Dogma zu erstarren, war wichtig, um die Musik aus bestimmten Erwartungshorizonten herauszulösen, ihr einen angemessenen Hör-Raum zu verschaffen. Diese historische Reflektion ist aber gerade kein »Hineinversetzen«, wichtiger ist es, diese Räume zu öffnen, andere Hörerfahrungen möglichen zu machen. »Es geht nicht darum, museal zu arbeiten, zu versuchen, etwas naiv wiederzugeben, sondern immer um die Frage: Was ist mit uns los? Was können wir lernen aus der Tradition für unsere Situation?«, stellt Hanna Herfurtner klar. Sie berichtet aus der »Klangwerkstatt« von The Present: » Die stimmlichen Anforderungen, die Alte Musik erfordert, entsprechen häufig den Anforderungen der Neuen Musik. Das habe ich zu Beginn eher zufällig wahrgenommen, einfach weil Kolleg*innen, die die Musik bis Bach gesungen haben, auch Stücke aus den Jahren nach 1950 im Repertoire haben. Aber es betrifft doch die künstlerische Realität vieler Sänger*innen. Unser Ensemble bildet diese ganz bewusst ab. Ich finde das spannend, dass zwei extrem entfernte Bereiche, chronologisch gesehen, über das Spektrum von Klassik und Romantik hinweg total gut korrespondieren und Gemeinsamkeiten aufweisen: was Stimmbehandlung angeht, die Gewichtung von Intonation, dass es stark auf Mikrotonalitäten ankommt — bis hin zu einer bestimmten Emotionalität. Mir ist die Art, wie bis zur Frühklassik Emotionen ausgedrückt wurden, näher, als es in der Musik von 150 Jahren der Fall war. Das sind sehr spannende Korrespondenzen.« Und Olivia Stahn ergänzt: »Unsere Konzeptarbeit nimmt wahnsinnig viel Zeit in Anspruch, es ist Forscherinnenarbeit, gleichzeitig haben künstlerische Assoziationen viel Platz. Wir maßen uns nicht an, dass wir definitive Antworten vorstellen, sondern uns geht es darum, musikalische Möglichkeiten vorzustellen.«

Musik als intellektuelles Abenteuer? Überhaupt nicht, darauf besteht Lukas Henning, wenn er von der Unmittelbarkeit seiner Erfahrung mit Early Music spricht: »Diese Musik hat für mich keinen Schwulst, da ist nichts ›romantisches‹, es fehlt ihr das Verklärende, die Schwere des 19. Jahrhundert. Es ist eine ganz andere Vielschichtigkeit.« Diese Direktheit des musikalischen Genusses, die sich sehr rasch auf die Hörer überträgt, wenn sie die Interpretationen von Hennig und Tinney hören, die ohne falsches Sentiment, ohne überflüssige Gesten auskommen, verschränkt sich mit dem historischen Bewusstsein: Es ist immer noch die Musik der Eliten der damaligen Zeit. Sie ist bis in kleinste Detail gestaltet, im höchsten Maß konzeptionell, nichts an ihr ist einfach. Henning verweist auf das berühmt-berüchtigte Album von Sting, auf dem der Megastar Lieder von John Dowland, einem Komponisten aus der Shakespeare-Zeit, singt: So gehe es nicht! Versuche, die Musik von damals zugänglicher zu machen, enden in Opportunismus. » Dowlands Lieder sind so komplex, vielschichtig und raffiniert, dass man sie nicht ironisch oder populistisch aufführen sollte. Die Lieder sind komplett unironisch — und gerade weil sie so komplex sind, passen sie so gut in unsere Zeit, weil wir ebenfalls permanent mit Komplexität und Vielschichtigkeit konfrontiert sind.« Das Interessante ist nun, dass aus dieser Strenge gerade keine Starre folgt, im Gegenteil. Weil die Musik zeitlich so weit weg von uns ist und sie dabei eine fremde Eigenständigkeit und Souveränität ausstrahlt, lässt sie sich so gut in andere Kontexte platzieren — eine Spannung, die man auch in der Bildenden Kunst entdecken kann, etwa im hiesigen Kolumba Museum, wo traditionelle sakrale Kunst mit radikalen künstlerischen Positionen aus der Gegenwart perfekt dis-harmoniert.

»Der Raum für Interpretationen ist größer. Als Interpretin entdecke ich da einfach mehr Möglichkeiten, mich auszudrücken, diese Musik ist nicht von Erwartungen überfrachtet, der Komponist ist noch keine alles überstrahlende Größe. Das macht es leichter, Early Music zu ›transportieren‹ hin zu unserer Emotionalität heute«, bringt es Hanna Herfurtner auf den Punkt.

Dabei geht es auch um konkrete Räume — auch in 2021 und der folgenden Post-Corona-Zeit muss es möglich sein, auf diesem Niveau über Musik zu reflektieren und die künstlerische Arbeit ungeschmälert einem neugierigen Publikum vorzuführen. Deshalb ist es wichtig, dass es gerade jetzt ein »Artist in Residence«-Programm gibt, das sich strukturelle Ziele setzt und künstlerisch nachhaltiges Arbeiten verspricht. Das ZAMUS hat dieses Jahr noch viel vor: Nicht nur soll die Arbeit der Ensembles aus dem »Advanced«-Programm weiter begleitet werden und im November in Abschlusskonzerte münden, für Juni ist zudem das große »Early Music«-Festival geplant. Der Prozess der musikalischen Auseinandersetzung hört zum Glück nicht auf.

Info: Das »Advanced«-Programm wird vorgestellt unter zamus.de/zamus-advanced/

Stream: Fr 12.3., 19.30 Uhr, zamus: unlimited, mit Orpheus XXI NRW und Gäste, Klangvokale Brückenschläge zwischen Arabischer und Persischer Musik, zu sehen via Facebook und dem Youtube-Kanal des zamus.