Erfahrungen begreifbar machen: Masha Qrella, Foto: Claudia Rorarius

September der Kritik

Masha Qrella setzt sich mit Leben und Werk des großen Widerspenstigen Thomas Brasch auseinander

»Drei Wünsche, sagte der Golem«, und der Autor überlegt. Er nennt einen und noch einen und der dritte lautet: »In einem zerstörten Haus wohnen, antwortete ich/ allein in einer verwüsteten Landschaft,/ in zerbrochene Ziegel Briefe gekratzt/ an meine tote Verwandtschaft.« Wer jetzt denkt, kenne ich: schwarze Romantik, existenzialistische Haltung, krass übersteigerte Subjektivität, liegt falsch — und richtig zugleich.

Denn Thomas Braschs Gedicht »Drei Wünsche, sagte der Golem« ist tatsächlich hochpolitisch, was die ersten beiden Strophen mit ihrer melancholischen, dann wütenden Absage an DDR-Sozialismus und BRD-Kapitalismus bezeugen, und am Ende eben auch hemmungslos subjektivistisch. Der am 3. November 2001 verstorbene Berliner Dichter, 1945 in England geborene Sohn jüdischer Flüchtlinge machte in seinen Gedichten, Prosastücken, Dramen und Filmen, selbst noch in seinen meisterhaften Shakespeare-Übersetzungen immer den Einspruch des Einzelnen gegen die Gesellschaft stark, oft überzeichnet, rückhaltlos und widersprüchlich, aber immer präzise und historisch beklemmend gut informiert: »Seine« Gesellschaft — im Osten wie im Westen — war die des Postfaschismus, Braschs Einspruch dagegen ging auf eine solide marxistische Schule und eine Prägung durch die Ästhetik Brechts zurück. Der Ort seiner Literatur, ihr erster Resonanzraum, war die DDR, die er 1976 eher unfreiwillig verließ. Verstehen kann seine Texte aber jeder — sie weisen eine eigentümlich schwebende, ortlose Dimension auf.

Man merkt es schon an diesem langen Vorspann: Es ist nicht leicht, mit Brasch zurande zu kommen. »Er hat eine Sprache gefunden, die sehr persönlich war, was in den 70er Jahren noch wirklich ungewöhnlich gewesen ist. Und er hat weiter darauf bestanden, dass seine Gedichte politische sind, auch wenn dieser Charakter nicht mehr so ins Auge sprang. Das macht sie so visionär«. sagt die Berliner Musikerin und Sängerin Masha Qrella. »Sie fragen nach der persönlichen Verantwortung in größeren Kontexten, in sozialen, in politischen. Man ist immer nur soweit politisch, wie man es zulässt, auch persönlich Konsequenzen zu ziehen. Und umgekehrt: Man wird dann politisch, wenn man seinen persönlichen struggle öffentlich macht, wenn man sich bewusst macht, dass zum Beispiel Depressionen immer auch ein Politikum sind, etwas, was die ganze Gesellschaft betrifft und auch auf dieser Ebene bekämpft werden muss.« Qrella hat sich in den letzten Jahren sehr mit Brasch auseinandergesetzt und mit ihrer Band aus diesem Prozess ein wundersames Album gewonnenhat. Es heißt »Woanders« und nimmt die die schwebende, ortlose Dimension der Gedichte Braschs vielleicht ernster, als es Brasch selber getan hätte.

Denn auseinandergesetzt heißt: Sie hat Gedichte von Brasch vertont; sie hat sie so gut vertont, dass man meint, er hätte sie für Qrellas Melodien geschrieben. Sie trägt die Gedichte ohne falsche Sentimentalität vor, mit einer Stimme, in der sich Melancholie und Lakonie die Waage halten und ununterscheidbar ineinander übergehen. Es ist überhaupt das erste Mal, dass sie, die vom instrumentalen Postrock kommt, so ausgiebig auf Deutsch singt. »Ich hatte gar nicht vor, etwas mit den Gedichten zu machen, an ein Album habe ich überhaupt nicht gedacht«, sagt sie im Interview. »Aber so ist das nun mal: Wenn mir Texte hängen bleiben, dann fange ich irgendwann mit ihnen an zu arbeiten, ich singe sie zum Beispiel. Aber ohne große Ambitionen, etwa als Grußbotschaft für eine Freundin. Das waren einfache Skizzen.« Dieses Skizzenhafte hat sich in noch in den fertigen Songs erhalten, weniger in den Arrangements, die manchmal zu glatt klingen, als in den Melodien selbst, die schlicht sind, fast kindlich, und eine Lyrik tragen, die nur gebrochen auf die Kindheit blicken könnte.

»Die Faszination für seine Lyrik hat nicht aufgehört, ich kann mich mit vielen Gedichten von ihm stark identifizieren. Das hat dazu geführt, dass ich mich an viele Eindrücke und Erlebnisse aus meiner Kindheit erinnert habe. Mir war die Auseinandersetzung mit meiner ostdeutschen Herkunft oft zu anstrengend, ich habe sie nicht gesucht, bin ihr vielleicht sogar aus dem Weg gegangen. Und dann kommt dieses Buch, öffnet eine Tür, zeigt einen Weg, den ich mitlaufen möchte.« Sie meint den 2012 erschienene Roman »Ab jetzt ist Ruhe« von Marion Brasch, der kleinen Schwester von Thomas, die kaum verschlüsselt die Familiengeschichte aus der Perspektive der Jüngsten erzählt. »Das Buch hat eine Leichtigkeit, die ich brauchte, weil die Familiengeschichte der Braschs so viel Schwere hat. Man kann auch viele Gedichte von Brasch als sehr düstere lesen, aber das Buch hilft, einen anderen Blick auf sie zu werfen, mehr das Utopische und Neugierige in ihnen zu sehen.«

Aus dieser Gemengelage — Brasch gesehen durch die Augen seiner Schwester, seine Gedichte verstanden als Statements auch zur gegenwärtigen Lage, schließlich die Kopplung dieser Texte und Geschichten mit Qrellas eigener Biographie — hat sich erst allmählich die Idee eines Album ergeben, ein langer Weg, den Qrella »diesmal auch nicht allein und nicht ausschließlich musikalisch gegangen« ist: »Ganz am Anfang gab es diese persönliche Ebene, die die Texte bei mir getriggert haben und aus der heraus die ersten Skizzen und Songentwürfe entstanden. Aber ich habe diese Auseinandersetzung sehr früh aufgemacht und zunächst mit Freunden geteilt, auf der Suche nach Austausch. So entstand gemeinsam mit der Filmemacherin Diana Näcke und der Dramaturgin Christina Runge die Idee für ›Woanders‹ in seiner ursprünglichen Form: Es ist ein Abend, den wir gemeinsam für das Theater ›Hebbel am Ufer‹ entwickelt haben, eine Mischung aus Konzert, Performance und Installation, in der nicht die schillernde Figur Braschs, sondern seine Gedichte im Mittelpunkt stehen sollten. Die Proben für ›Woanders‹ mit meinen Mitmusikern Chris Imler und Andreas Bonkowski wiederum waren ausgedehnte Sessions, in denen wir die musikalischen Motive auf den Kopf stellten und wieder neu zusammen setzten. Auch die Zusammenarbeit mit den andern Gästen hat die Songs noch sehr verändert und geprägt, vieles davon findet sich auch auf dem Album wieder. Das Album spiegelt aber eben nur den musikalischen Teil dieser Auseinandersetzung.« Zu den Gästen zählt übrigens Tocotronics Dirk von Lotzow, der schön und klar singen kann, wenn er nicht seine eigenen wirren Texte vortragen muss.

Die Auseinandersetzung ist eine gesellschaftliche, die die biographische einschließt, denn die Biographie ist immer auch eine Behauptung gegen die Zumutungen der Gesellschaft. »Wir waren damit beschäftigt, wo wir eigentlich gelandet sind: Ich war 14 als die Mauer fiel. Wir haben mindestens zehn Jahre gebraucht, um eine eigene, eine neue Perspektive zu finden. Da blieb nicht viel Platz für anderes«, blickt Qrella zurück. Immerhin blieb Platz für Contriva, die bis 2006 eine Reihe von zurückgenommenen, still beharrlichen Postrock-Alben und Singles aufgenommen haben und international gefeiert wurden. Viel ortloser als ihre Stücke kann Pop kaum sein. »Wenn wir mit Contriva getourt sind, wer wusste denn schon, dass wir aus dem Osten sind? Wir haben das nicht an die große Glocke gehangen, warum auch immer. Darüber denke ich heute viel nach: Sind wir damals etwas aufgesessen, was gesellschaftlich nicht gewollt war? Weil die Wiedervereinigung durchgepeitscht werden sollte? Oder umgekehrt — hat unser Verhalten damals dazu beigetragen, dass die Wiedervereinigung so lief, wie sie lief?«

Die 90er Jahre sind seit 20, 25, 30 Jahre vergangen, lange Zeit — keine lange Zeit. Denn nichts in ihnen war »versöhnt«, und was im Westen als Anbruch einer Zeit, in der »die Geschichte« geendet hätte, gefeiert wurde, kam im Osten als Raub von Geschichte, Deformierung von Biographien und Ausverkauf ganzer Landschaften an. »Unsere Stimmen haben gefehlt, das würde ich schon so sagen. Auf jeden Fall gilt das für die Musik, der gesamte Musikdiskurs der 90er Jahre war westdeutsch geprägt. Das heißt nicht, dass wir immer ausgegrenzt wurden, aber vielleicht nicht richtig verstanden. Uns wurde zum Beispiel oft ›Understatement‹ unterstellt. Ich glaube, unsere Herkunft hätte unsere Scheu vor politischen Positionierungen oder anklagenden Verurteilungen bürgerlicher Grundbegriffe besser erklärt. Um von da zu Thomas Brasch zu kommen: Er wurde in der BRD vor allem als ostdeutscher Dissident rezipiert. Das ist ein jedoch spezifisch westlicher Blick. Er wollte ja nicht per se Dissident sein, oder schon gar nicht aus dieser Perspektive schreiben. Er wurde immer wieder auf seine Knasterfahrung im Osten angesprochen. Irgendwann hat er, glaube ich, mal geantwortet: Wenn ich mich von einer Frau trenne und auf die gegenüberliegende Straßenseite ziehe, hänge ich mich doch auch nicht aus dem Fenster und schreie, meine Ex-Frau ist ‘ne Hure.« Legendär ist Braschs — gar nicht charismatische, eher schüchtern-kurze — Rede anlässlich der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1981: Er dankt seiner verloren gegangenen Heimat für die Ausbildung, die er dort genossen hat. Vor den Augen von Franz-Josef Strauß! Man wollte ihm den Preis am liebsten noch auf der Bühne aberkennen. »Seine Perspektive auf das Land, in das er gekommen ist, die Widersprüche, die ihn in der BRD zermürbt haben, als Künstler, als Mensch: Das alles stand jedenfalls nicht im Mittelpunkt des Hypes um ihn. Aber es ist das, worin ich mich heute wiederfinde«, sagt Qrella.

Eines der eindringlichsten Gedichte von Brasch ist es der Form nach eigentlich nicht, sondern so beiläufig, dass es schmerzt: »Ich habe keine Zeitung gelesen./ Ich habe keiner Frau nachgesehn./ Ich habe den Briefkasten nicht geöffnet./ Ich habe keinem einen Guten Tag gewünscht./ Ich habe nicht in den Spiegel gesehn./ Ich habe mit keinem über alte Zeiten gesprochen und/ mit keinem über neue Zeiten./ Ich habe nicht über mich nachgedacht./ Ich habe keine Zeile geschrieben./ Ich habe keinen Stein ins Rollen gebracht.« Es heißt »Der schöne 27. September« und gehört zu jenen, die Qrella, die die Gedichte ohne »Programm« aussuchte, vertont hat. Der Song sticht aus ihrer Reihe hervor, weil er am ehesten wie ein Folk-Stück klingt. Sie hält es offen, ob sie es als Utopie singt — oder als Ausdruck von Depression. »Wenn man die Widersprüche, in denen man selber steckt, zugänglich macht, wird man wirklich politisch. Über Parolen oder angelesene Texte wird man es nicht«, sagt sie, und von den vielen Erfahrungen, die man mit Qrellas Vertonungen begreifen kann, kann man auch diese begreifen.

Tonträger: »Woanders« ist bereits auf Staatsakt erschienen.

Das gleichnamige Hörspiel von Diana Näcke, Masha Qrella und Christina Runge ist in der Mediathek von Deutschlandfunk Kultur zu hören.

Die Bücher von Thomas Brasch erscheinen im Suhrkamp Verlag.