»Dead and Beautiful«: Auf der Suche nach der toten Zeit

Zu Plattformen mutiert

Online-Editionen von Filmfestivals: Improvisierte Notlösungen unter Pandemie-Bedingungen oder Zeichen eines strukturellen Wandels?

»Fuck this. Fucking mask.« Momentan kann wohl jeder die Genervtheit des jungen Mannes nachvollziehen, der in einem Supermarkt in Taipeh sein Konterfei im Spiegel betrachtet. Allerdings trägt er seine Maske nicht aufgrund der grassierenden Pandemie, sondern um seine Fangzähne zu verbergen. In David Verbeeks »Dead and Beautiful«, der im Februar beim Internationalen Filmfestival Rotterdam seine Weltpremiere feierte, finden sich fünf verwöhnte superrich kids nach einem schamanischen Ritual scheinbar in Vampire verwandelt.

Der kapitalistische Ausbeuter als Vampir — der Niederländer Verbeek buchstabiert in seinem von Corona noch unbelasteten Horrorfilm die ohnehin nicht sehr originelle Allegorie immer wieder so deutlich aus, dass sie schnell an Reiz verliert. Verführerisch sind allerdings die Oberflächen des an südkoreanischen Hochglanz-Thrillern und den Neonnacht-Filmen Nicolas Winding Refns orientierten Films. Wenn die jungen, schönen Untoten zu 80er-Jahre-Synthie-Sounds in ihren schwarzen Masken durch die futuristische Hauptstadt Taiwans streifen, wird einem auch das komfortabelste Heimkino zu klein. Es verhält sich ein wenig wie in »Dead and Beautiful« selbst: So wie hier am Ende — Achtung Spoiler! — dem Vampirmythos die Luft rausgelassen wird und er eine sehr irdische Erklärung bekommt, macht das Home Viewing aus Verbeeks Film ein ziemlich profanes Erlebnis.

Denn natürlich fand die Weltpremiere von »Dead and Beautiful« nicht in einem Rotterdamer Kino statt. Ursprünglich als hybrides Festival geplant mit einem Online-Angebot für ein nationales Publikum und internationales Fachpublikum, und Kinovorführungen für die Menschen vor Ort, musste der physische Teil des Festivals abgesagt werden, nachdem ab Mitte Dezember die Kinos in den Niederlanden geschlossen wurden. Besonders bitter ist das für die neue Festivaldirektorin Vanja Kaludjercic und ihr Team, weil sie dieses Jahr den 50. Geburtstag des Festivals feiern wollten. Immerhin hofft man, im Juni die geplanten Jubiläumsprogramme in den Kinos und mit Gästen präsentieren zu können.

Nach einem Jahr Corona sind Festivals immer noch gezwungen, je nach Infektionslage zu improvisieren. Ende September vergangenen Jahres verkündete etwa das Filmfestival Max-Ophüls-Preis noch, der Schwerpunkt werde auf der Filmpräsentation in den Saarbrücker Kinos liegen. Am Ende fand das wichtigste Festival für den deutschsprachigen Filmnachwuchs im Januar als reine Online-Veranstaltung statt. Man bot knapp einhundert kurze, mittellange und Langfilme online an, plus einer ganzen Reihe von Publikumsgesprächen und Branchentalks über Live-Streams. Durchaus mit Erfolg: Fast zwei Millionen Minuten Sehdauer (mehr als 1300 Tage) wurden nach eigenen Angaben insgesamt über die Streaming-Plattform geschaut. Die Preisverleihung verfolgten 2900 Menschen live an ihren Endgeräten — weit mehr, als in den größten deutschen Kinosaal passen würden. Wenn die Pandemie-Lage es zulässt, hofft man dieses Jahr auch hier noch einige Filme dem Saarbrücker Publikum präsentieren zu können.

Auch die traditionell im Februar stattfindende Berlinale, Deutschlands wichtigstes Filmfestival, soll in zwei Schüben stattfinden. Im März wird ein reines Fachpublikum-Event inklusive Bärenvergabe online abgehalten — plus Kinovorführungen des European Film Market in Melbourne, Mexico City, São Paulo und Tokyo. Nachgeholt werden soll das öffentliche Event dann in den Berliner Kinos mit einer reduzierten Auswahl an Filmen aus allen Sektionen vom 9. bis 20. Juni.

Kurz-, Dokumentar- und Nachwuchs-Filmfestivals steht der Weg ins Netz mit Streaming-Angeboten für ein allgemeines Publikum eher offen als einem A-Festival wie der Berlinale, die mit prominent besetzten Spielfilm-Programmen oder sogar Premieren von Hollywoodfilmen glänzen will. Ihr bleibt kaum etwas anderes übrig, als den Termin zu verschieben und auf eine Besserung der Pandemie-Situation zu hoffen. Die Verlagerung ins Netz ist hier besonders schwierig, da es kaum möglich ist, die Streamingrechte für alle ausgewählten Filme zu bekommen.

Ein Grund: Der Glamour einer Premiere mit Rotem Teppich und der dazugehörigen Aufmerksamkeitsökonomie lässt sich online kaum generieren. Ebenso wenig, wie sich natürlich für das Publikum — wie oben beschrieben — das Erlebnis im Kino ersetzen lässt. Dementsprechend hat das Filmfestival von Cannes — Gralshüter der Kinokunst — schon im vergangenen Jahr deutlich gemacht, dass ein Online-Ereignis als Ersatz für das Festival nicht in Frage kommt. Dieses Jahr hofft man, der Pandemie mit einer Verschiebung vom angestammten Mai-Termin in den Juli zu entkommen — angesichts von Virenmutationen und schleppend anlaufenden Impfprogrammen in vielen Ländern eine alles andere als sichere Option.

Vor allem bildgewaltige und langsam erzählte Filme brauchen die bessere Technik beziehungsweise die Fokussierung der Aufmerksamkeit im Kinosaal, während ein dialoglastiges Kammerspiel weniger verliert, wenn es zuhause gestreamt wird.

Besonders heikel sind solche Unterschiede, wenn es um Festival-Preise geht, die auf der Basis von Streaming-Erlebnissen vergeben werden sollen. Eine Jury, die nicht mehr in einem Raum gemeinschaftlich die Filme erlebt, sondern individuell auf den unterschiedlichsten Endgeräten in den unterschiedlichsten Lebenssituationen, kann kaum eine gerechte Entscheidung treffen. Die Berlinale will zumindest sicherstellen, dass für die Preisvergabe die Voraussetzungen für alle Filme des Wettbewerbs gleich sind. Die Internationale Jury wird — mit Ausnahme von Regisseur Mohammad Rasoulof, der wegen seines Justizverfahrens den Iran nicht verlassen kann — in der ersten Märzwoche gemeinsam in einem Berliner Kino sichten und daraufhin über den Goldenen und die Silbernen Bären entscheiden.

Auf einen bislang wenig beachteten Unterschied zwischen »physischen« und Online-Filmfestivals wies Anfang Februar bei einem Panel im Rahmen des Film Festivals von Rotterdam die Festival-Kuratorin Kuo Ming Jung hin. Ihrer Erfahrung nach sei die Teilnahme an Online-Festivals rein »task orientated«, was gerade für den Filmnachwuchs ein Problem sei. Anders formuliert: All die zufälligen, vielleicht schicksalhaften Begegnungen, die Filmfestivals mit sich bringen, passieren bei einem Online-Event nicht oder zumindest wesentlich seltener. Auch wenn Festivals virtuelle Partys abhalten, Chats anbieten oder versuchen, andere Möglichkeiten zum Networking zu schaffen, die Zeitbudgets der meisten Teilnehmer sind bei Online-Events sehr effizient auf ihre Ziele ausgerichtet. Es fehlt einfach die tote Zeit, die etwa bei einem physisch abgehaltenen Festival entsteht, wenn man eine Stunde bis zum nächsten Film zu überbrücken hat oder die Wartezeit in der Schlange vor einem Kinosaal, die Zufallsbekanntschaften ermöglicht.

All das sind Gründe, weshalb weltweit wohl kein Festival auf eine Veranstaltung im Kino verzichten will. Allerdings arbeiten einige an einem dauerhaften Ausbau ihrer Präsenz im Netz. Das gilt für das Sundance-Filmfestival in den USA, das Filmfestival von Toronto in Kanada und in Deutschland vor allem für die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Oberhausen war es im vergangenen Jahr gelungen, innerhalb kürzester Zeit fast das gesamte Programm des vom ersten Lockdown betroffenen Festivals online zugänglich zu machen. Laut eigenen Angaben mit Erfolg: Aus fast 100 Ländern wurde auf das Angebot zugegriffen, mehr als 2500 Festivalpässe wurden verkauft.

Dieses Jahr geht man in die Offensive: Gleich drei neue Online-Wettbewerbe werden die bisherigen Wettbewerbe ergänzen, ein reines Streaming-Festival soll an den vier Tagen vor dem Termin der geplanten physischen Veranstaltung stattfinden. »Die neuen Wettbewerbe sind Bestandteil eines Strukturwandels der Kurzfilmtage, der eine neuartige Funktionsweise von Festivals einleiten soll«, schreibt Festivaldirektor Lars Henrik Gass in einer Pressemitteilung. »Dies eröffnet auch eine neue kulturpolitische und demokratische Dimension von Filmfestivals in sich rapide verändernden Gesellschaften. Die Inhalte von Festivals werden fast überall zugänglich. Festivals werden von Veranstaltungen zu Plattformen.« Um diesen Wandel zu forcieren, hat sich Oberhausen außerdem mit drei anderen europäischen Kurzfilmfestivals zusammengeschlossen und bringt im April die Kurzfilmplattform »This Is Short« ins Netz.

Die großen Langfilmfestivals werden es weitaus schwerer haben, attraktive Inhalte auf ihren Plattformen anbieten zu können — denn damit würden sie zu Konkurrenten mächtiger Streaming-Plattformen wie Mubi oder auch Netflix, die selber nicht unbeträchtliche Teile ihrer Filmbibliotheken auf Festivals einkaufen. Die »Demokratisierung«, von der Lars Henrik Gass schreibt, wird spätestens da ihre Grenzen haben, wo es um handfeste ökonomische Interessen geht.

Weitere Infos zu den genannten ­Festivals: ffmop.de (Saarbrücken), ­­ iffr.com (Rotterdam), kurzfilmtage.de (Oberhausen), berlinale.de, sundance.org, tiff.net (Toronto), festival-cannes.com