Triadisches Ballett auf LSD

»Music«

Sia erzählt die Geschichte einer Autistin mit Elektro-Pop und Tanz-Einlagen

Jahrzehntelang mussten Schauspieler*innen versichern, dass sie mit ihrer Rolle nicht identisch seien, dass Kunst und Leben nicht zwingend übereinstimmen müssten, jedenfalls nicht in Spielfilmen, denn sonst hießen die ja Dokumentationen. Vergeblich. Inzwischen sollen sie nicht mehr spielen, was sie spielen, wenn sie nicht zugleich genau das sind, was sie spielen. Dieses neue Gebot bekam jüngst auch die australische Sängerin und Komponistin Sia in Form eines gewaltigen Shitstorms zu spüren. Es reichte schon die Veröffentlichung des Trailers zu ihrem Spielfilmdebüt »Music«, um Autist*innen gegen sich aufzubringen. Für »Music« hatte Sia nämlich die Tänzerin Maddie Ziegler engagiert. Ziegler ist keine Autistin. Sie spielt eine. Und das ist für Aktivist*innen, die sich für Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen, ein Problem.

Dabei rückt schon der Name der Titelfigur, »Music«, die Rolle in den Stand einer Allegorie. Also Kunst. Aber gut. Music spricht kaum, legt irrlichternde Mimik an den Tag, schirmt sich mit Kopfhörern vor Außenreizen ab und ist auf feste Rituale angewiesen. Sie lebt bei ihrer Oma, ein paar gute Geister in der Nachbarschaft haben ein feines Netz an diskreter Betreuung geknüpft, damit Music ihren täglichen Spaziergang durchs Viertel unbehelligt absolvieren kann. Doch dann stirbt Oma, und nun soll von Amts wegen die ihr nahezu unbekannte Schwester Zu (Kate Hudson) auf sie aufpassen. Die macht gerade einen Entzug und träumt von einem Aussteigerleben mit Yoga irgendwo im »Paradies«. Hauptsache, keine Verantwortung.

Man kann dem Drehbuch vorwerfen, einen behinderten Menschen zum Hilfsmittel zu machen, um ein aus der Bahn geratenes Mittelschichts-Leben wieder auf Kurs zu bringen. Aber was sonst oft bloß karikierend wirkt — wenn nichtbehinderte behinderte Menschen spielen –, wird hier aufgefangen in der radikalen Künstlichkeit der bonbonbunten Musical-Einlagen, die jede Mimik-Entgleisung Musics zum stilistischen Konzept erheben. Im scharfen Kontrast zum Kitchen-Sink-Realismus der Schwesterngeschichte (auch eine Liebesgeschichte kommt vor) hantiert Sia zu ihren sanften Elektro-Popsongs mit Kostümen und Choreografien, als sei es das Triadische Ballett auf LSD. Es wäre naiv, dies als authentisch gemeinte Illustration der Innenwelt einer Autistin zu deuten, dazu ist das Ganze viel zu ironisch überdreht. »Music« ist ein freundlicher, fantasievoller Film. Er dreht sich weniger um die stets vorausgesetzte Fürsorglichkeit zwischen Blutsverwandten als vielmehr um die Solidarität zwischen Außen­seitern.

(dto) USA 2021, R: Sia, D: Maddie Ziegler, Kate Hudson, Leslie Odom Jr., 103 Min., bereits verfügbar auf Amazon und iTunes; auf DVD und Blu-ray ab 5.3.