Gesellschaftskritische Achterbahnfahrt

»Malcolm & Marie«

Sam Levinson inszeniert ein hochspannendes, verzwicktes Kammerspiel

Als die Dreharbeiten zu einem Serienprojekt im Frühjahr corona-bedingt abgesagt werden mussten, arbeitete Regisseur Sam Levinson (»Euphoria«) innerhalb weniger Wochen ein Drehbuch aus, das unter den eingeschränkten Bedingungen realisierbar erschien. Ein Haus, ein Paar, eine Nacht. So lautete die enge erzählerische Vorgabe, die mit einer kleinen Crew von zwanzig Personen in ein filmisches Format gebracht werden sollte. Dass sich aus der Beschränkung eine ganz eigene Komplexität, Intensität und Intimität entwickeln lässt, beweist das Beziehungsdrama »Malcolm & Marie« nun auf eindrucksvolle Weise. Spät in der Nacht kommen die beiden Titelfiguren von einer Premieren-Party nach Hause. Malcolms Film wurde von Publikum und Pressevertretern gefeiert und wird ihm als Regisseur den lang ersehnten Karrieredurchbruch verschaffen.  Auf der Bühne hat Malcolm (John David Washington) sich fast bei jedem Crew-Mitglied namentlich bedankt, aber nicht bei Marie (Zendaya). Dabei basiert die Story des Films um eine afroamerikanische Drogenabhängige, die versucht, von ihrer Sucht loszukommen, zum größten Teil auf Maries Erlebnissen. Ein Versehen, behauptet Malcolm, aber die Ursachen für die vermeintliche Vergesslichkeit liegen sehr viel tiefer in der Beziehungsstruktur begraben. Und die wird in den folgenden hochspannenden hundert Filmminuten Schicht um Schicht freigelegt. Die beiden schenken sich in ihren gegenseitigen Anklagen, Liebesgeständnissen und unerbittlichen Analysen nichts. Dabei geht es nicht nur um die Paarbeziehung, sondern auch um den Preis der Kreativität, den Narzissmus des Filmschaffenden und den strukturellen Rassismus, mit dem ein afroamerikanischer Regisseur in der US-Industrie konfrontiert ist. Neben dem dynamisch strukturierten Drehbuch, das die emotionale Achterbahnfahrt nur an einigen wenigen Punkten übersteuert, sind es vor allem die schauspielerischen Leistungen, die dieses rasant-intime Kammerspiel mit Spannung aufladen. Zendaya ist herausragend in der Rolle einer tief verletzten Frau, die ihren Schmerz nicht nur in Wut, sondern ebenso in eine beißende Analyse ihres Gegenübers kanalisiert. Darüber hinaus entwickelt »Malcolm & Marie« eine visuelle Brillanz, wie man sie von einem Kammerspiel nicht erwartet hätte. In stilvollen Schwarzweiß-Aufnahmen findet Kameramann Marcell Rév (»Euphoria«) in dem von Glaswänden durchzogenen Strandhaus immer neue Sichtachsen und Blickwinkel, ohne die Konzentration auf die beiden Figuren zu verlieren. 

(dto) USA 2020 R: Sam Levinson, D: Zendaya, John David Washington, 106 Min., verfügbar auf Netflix