Warum hat er sich angezündet? Spurensuche im Münchener Residenztheater, Foto: Sandra Then

Mr. Lonely brennt

Ein »True Crime«-Stück erforscht im Livestream des Münchener ­Residenztheaters eine mysteriöse Selbstverbrennung

Vor drei Jahren hat sich auf dem Marienplatz in München ein Mensch verbrannt. Seine Identität konnte nie aufgeklärt werden, im Polizeibericht aber hieß es, er sei 54 Jahre alt gewesen. Dieser Mann hatte sein Auto am Rande geparkt, nur eine Straße weiter, darauf geschrieben — kein Manifest, nein nein, nur eben »etwas« — es stand darauf: »Nie wieder Krieg von deutschem Boden.« Und noch ein weiterer Satz. Aber dazu später mehr.

Warum wählt jemand den prominentesten Ort einer Stadt und gleichzeitig eine Uhrzeit, drei Uhr in der Nacht, zu der niemand ihn wahrnimmt? Es ist eine »True Crime«-Geschichte, die das Münchener Residenztheater im Live­stream liefert und in die sich der polnische Autor Beniamin M. Bukowksi selbst hinein geschrieben hat: als schlaflosen Fremden in einer vergoldeten Stadt, in der selbst die Ungläubigen sich mit »Grüß Gott« grüßen und die nur deswegen von einem österreichischen Immigranten zur »Hauptstadt der Bewegung« ernannt werden konnte, weil man noch nie nicht etwas gegen Immigrant*innen gehabt habe. Auf der Suche nach Inspiration für sein neues Stück stößt der Autor im Internet auf die Geschichte der Selbstverbrennung und muss feststellen: Kaum jemand hat damals von ihr Notiz genommen.

»Das war merkwürdig, denn in Polen haben ähnliche Fälle — in der Vergangenheit, aber auch erst kürzlich ereignete — eine große Aufmerksamkeit generiert«, schreibt Bukowski im begleitenden Programmheft. Zwischen improvisierten Buden des Christkindlmarktes, Stehkarussel und Boxauto bringt Regisseur András Dömötör das Stück auf die Bühne, musikalische Begleitung inklusive: Es wird auf Xylophonen geklimpert, im feier­lichen Kanon singt das Ensemble den eingangs erwähnten Satz auf dem Auto, und einmal gibt es sogar so etwas wie eine Punk-Version von Bobby Vintons Pop-Klassiker »Mr. Lonely«. In einer, für das Thema völlig grotesken Szenerie, lässt Dömötör die Puppen tanzen — oder besser gesagt: seine Protago­nist*in­­nen, die sich so behende in der Choreografie des Textes bewegen, dass sie wie aufgezogen wirken.

Da ist etwa Abraham, der soe­ben seinen einzigen Sohn Isaak auf dem Scheiterhaufen zum Opfer gebracht hat, und dem, anders als in der ursprünglichen Schrift vorgesehen, kein Engel von Gott gesandt wurde, um ihn vor der schrecklichen Tat zu bewahren. Da sind statt dessen die beiden Cops von der Münchener KriPo, die den Tatort mit überdimensionalen, goldfarbenen Weihnachtsbaumkugeln auf dem Kopf stürmen, und deren Gesten mit Ton gewordenen Comic-Geräuschen unterlegt werden. Und da ist schließlich Gott selbst, der später, als er in einem zum Therapiesofa umfunktionierten Boxauto liegt, geplagt von narzisstischen Selbstzweifeln, die biblische Lüge gesteht: »Prominentenbiografien sind immer geschönt.«

Bukowskis Text ist ein wilder Ritt durch die Kulturgeschichte der Opfergabe, ein Medley, wenn man so will, in dem er teologische Verweise, Gegenwartsbezüge und linke Theorie miteinander kurzschließt. »Die Idee des Opfers scheint eines der ältesten Konstrukte zu sein, die von der Menschheit entwickelt wurden«, schreibt er. Ein Handel, in dem etwas von größtem Wert geboten wird, um etwas anderes zu erhalten. Im Fall des Mannes auf dem Marienplatz hat dieser Tausch nicht funktioniert. »Sein heißt wahrgenommen werden«, resümiert Georg, der Schneeman, in einer ziemlich spöttisch inszenierten Talkshow, moderiert von einem Nussknacker und einem Lebkuchenpferd. Aber sagt diese Nichtbeachtung des Falles womöglich mehr aus?

Auf der Bühne wird diese Frage von der ausführenden Staatsgewalt selbst beantwortet, dem Bullen-Dop­pelpack, das linke Theoretiker hasst und dann doch Giorgio Agam­ben anführt. Agamben zufolge sind alle Institutionen des europäischen Gesetzes von relgiösen Strukturen der Vergangenheit abgeleitet: das Konzept der Verurteilung, der Schuld, aber auch des Opfers. Durch den Wandel der Welt stehen diese Institutionen vor einer Krise — und da kommt auf der Bühne, schnurstracks, denn die Polizei liebt den »Ausnahmezustand«, der Rechtsphilosoph Carl Schmitt ins Spiel, der einst als »Kronjurist des Dritten Reiches« galt und die These vertrat, dass über die eigentliche Macht im Staat derjenige verfügt, der andere davon überzeugen kann, dass eine außergewöhnliche Situation auch außergewöhnliche Schritte erfordert.

Schließlich ist die Zeit reif, um das Geheimnis des zweiten Satzes auf dem Auto zu lüften. »Ich hasse sie für dieses Denken«, schreit auf der Bühne der Autor, der endlich einmal aus seiner Rolle des Beobachters fällt, während hinter ihm die E-Gitarre wütet und das Stück seinen Zenit erreicht. Denn geschrie­ben stand dort, in großen Buch­sta­ben, gut leserlich für alle, die vorbei kamen: »Amri war nur die Spitze des Eisbergs. Nie wieder Krieg von deutschem Boden.« War es also die Tat eines Rechtsextremen? Die einzige Schwäche, die das Stück besitzt, ist, dass es diese Frage nicht beantworten kann, sondern nur kommentiert: »Bestimmte Sätze darf man nicht laut aussprechen, aber man muss auch verhindern, dass sie leise gedacht werden.«

Stream unter residenztheater.de