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Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 228

Eine kaum beachtete Nebenwirkung der Corona-Krise ist der Homeoffice-Witz. Seine Grundlage ist, sich eine möglichst erhebliche Diskrepanz auszumalen zwischen dem Auftritt und Erscheinungsbild in beruflichen Videochats einerseits und den tatsächlichen Verhältnissen andererseits, eben dort, wo die Computerkamera nicht hingucken kann. Etwa unter den Tisch. Dahinter steckt die zugleich erheiternde wie lustvoll ängstigende Phantasie, dass unter der dünnen Firnis gesellschaftlicher Konventionen eine Wildnis tobt. Oben die Krawatte mit doppeltem Windsor, kerzengerade und stramm wie zum Appell, aber unten, im toten Winkel der Videokonferenz, baumelt eine ­Jogginghose um die Beine.

Warum ist die Jogginghose zum Sinnbild des Schlendrians geworden? Gilt denn nicht form follows function? Ist das denn nicht immer noch der weithin befolgte Schlachtruf allen Designs, auch wenn er zu so viel Schmuck- und Einfallslosem aufpeitscht? Die Jogginghose zeigt doch form follows function in reinster und feinster Weise, meine Meinung.

Gewiss, es gibt dieses sehr oft kolportierte Zitat des Modezaren Karl Lagerfeld, der behauptet haben soll, wer eine Jogginghose trage, leide an Kontrollverlust. Aber kann nicht auch ein Fachmann irren? Wo bleibt hier die selbstverständlich immer angebrachte Anzweiflung von Autoritäten, zumal eines ach so gut informierten und vor allem selbst ernannten Jogginghosen-Experten?

Die Jogginghose ist doch gerade Ausdruck eines selbstbestimmten Lebens! Wer sie trägt, der trotzt den buchstäblichen Einengungen sowohl modischer wie gesellschaft­licher Diktate, sie ist zudem — wich­tig für alle, die auf den Höhenkämmen des »Diskurses« spazieren — total unisex und genderpolitisch bislang unverdächtig. Woher dann diese Ablehnung?

Ja, manch einen schüttelt’s beim bloßen Gedanken an die Jogginghose. Den Namen auszusprechen, kommt einem Frevel gleich. Wie zum Beleg belehrt mich Gesine Stabroth, maßgeblich in allen Fragen modischer Zweifelsfälle, dass man die Jogginghose korrekt »Sweatpants« nenne. Im Übrigen hätte ich wohl nicht mitbekommen, dass Sweatpants unter gewissen Umständen (die zu erläutern angesichts meines bestürzend geringen modischen Sachverstands leider ganz und gar zwecklos sei), durchaus ein must-have sind. »Natürlich nicht solche Buxen, wie Du sie trägst.« Woher weiß Gesine Stabroth, welche Sweatpants ich trage? Wir sehen uns seit diesem Shutdown doch nur noch als Close-up auf dem Computerbildschirm. Zudem trage ich völlig normale Hosen! Denn meine Sweatpants haben den Geist aufgegeben, sie sind nicht mehr funktionstüchtig. Wohl böte das »weich fallende Material« noch »einen angenehmen Tragekomfort«, jedoch ist der »interne Kordelzug« gerissen, um es fachlich präzis zu formulieren. Materialermüdung! Meine Sweatpants stammen noch aus der Zeit, als man sie unbekümmert Jogginghose nannte, an der Seite steht neonfarben »Power Energy 2000«, ansonsten ist sie mausgrau. I wear grey on the outside ’cause grey is how I feel on the inside.

Nun suche ich Ersatz, schließlich sind Sweatpants ein must-have! Die Nachfrage scheint corona-bedingt zu steigen, wenn man schon zu Hause bleiben muss, kann man es sich auch bequem machen, oder? Zu meinen Sweatpants stand geschrieben: »Sie werden sie gar nicht mehr ausziehen wollen!« Das klang irgendwie bedrohlich, aber auch entlastend: Es liegt nicht an mir, wenn ich verlottere, Schuld hat die Hose! Ich habe mir gleich zur Hose einen passenden, sehr unförmigen, sackartigen und grauen Kapuzenpulli bestellt. Niemand soll Witze darüber machen können, dass ich oben besser gekleidet sei als untenrum.