Gleiche Gage für alle — ob Tiflis oder Berlin: Irakli Kiziria, Foto: George Benieridze

Die Poesie des Nichtperfekten

Irakli Kiziria propagiert mit seinem Debütalbum »Major Signals« Tanzen als Selbsttherapie

Ein Satz von Irakli Kiziria will mir nach unserem Austausch nicht mehr aus dem Kopf gehen: »Wer in Deutschland lebt, vergisst oft, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist, sondern etwas, für das man jeden Tag kämpfen muss.«

Ich hatte den gebürtigen Georgier, der seit mehr als fünfzehn Jahren in Deutschland lebt, gefragt, wie er denn die viel beschworene gesellschaftlichen Aufbruchsdynamik in seinem Heimatland wahrnimmt, gerade im Abgleich mit seiner aktuellen Wahlheimat Deutschland. Kiziria sieht viele positive Entwicklungen, nicht zuletzt, da die junge Generation bereit ist, sich für Freiheit und Demokratie einzusetzen. Das sei jedoch kein leichtes Unterfangen, betont er, »denn die konservativen und traditionell geprägten Fraktionen wie beispielsweise die Orthodoxe Kirche führen einen Info-Krieg gegen jegliche Form der Aufklärung« — hier sei der Westen gefragt, sich noch mehr als bisher unterstützend einzubringen.

Man kann sich mit dem Technoproduzenten und DJ Irakli Kiziria nicht unterhalten, ohne dabei sofort das musikalische Plateaux zu verlassen und sich mit der sehr präsenten soziopolitischen Verortung seiner Produktionen und Projekte konfrontiert zu sein. Es ist essentieller Bestandteil seines künstlerischen Profils, nicht zuletzt wegen seines Lebenslaufs.

Um diesen zu verstehen, muss man sich die besondere Situation in Georgien nach dem Zerfall der Sowjetunion vergegenwärtigen, als die russische Regierung darauf bedacht war, die Macht trotzdem nicht zu verlieren. »Die kompletten 1990er Jahre waren in Georgien ein einziges Chaos aus internationalen kriegerischen Auseinandersetzungen und Bürgerkriegszuständen«, erinnert sich Kiziria. »Die Folge: Hunger, kein Strom und kein Wasser, also ein ziemliches Elend für die Bevölkerung. Es waren schwierige Zeiten, aber diese haben gerade meiner Generation auch Mut gegeben. Einerseits wollten wir die Unabhängigkeit feiern — andererseits wie macht man das, wenn draußen geschossen wird?«

Das Problem sei, so Kiziria, dass Russland nicht nur ein »hartes Regime mit einem Diktator ist, der alles tut, um seine territoriale Macht zu erhalten«, sondern Georgien mit der Türkei zudem noch ein weiteres Nachbarland besitzt, das von einem Autokraten regiert wird. »Dazu kommt noch die USA, welche ebenfalls ihre ganz eigenen strategischen Zielen haben und die EU, die sich letztlich nicht entscheiden kann, beziehungsweise sich nicht traut wirklich, gegen Russland etwas zu unternehmen. Historisch ist das schon immer so gewesen — und trotzdem wurde in Georgien viel getanzt und gesungen, das ist eine Art Selbsttherapie.«

Anfang der Nullerjahre entschloss Kiziria sich deswegen, das Land für ein Architektur Studium zu verlassen, dabei jedoch den Kontakt zu halten und regelmäßig für Besuche und auch DJ-Sets zurückzukehren, da sich in Tiflis rund um Clubs wie das Bassiani in den letzten Jahren eine starke Techno-Szene entwickelt hat. Sie denkt Hedonismus und Politik zusammen, weshalb sie von den  konservativen Mächten in Georgien kontinuierlich angegriffen wird. Der bis dato unrühmlichste Höhepunkt war im Mai 2018 eine militärische Intervention im Bassiani. »Die Clubkultur hat für die LGBTIQ Community im Land und die soziale Gerechtigkeit generell mehr getan und bewirkt als alle politischen Parteien und NGOs zusammen«, erläutert Kiziria die lokalen Verhältnisse. »Es war ganz eindeutig ein Kulturkampf, basierend auf einem Generations- und Wertekonflikt. Es wurden Freiräume angegriffen — und das leider mit sehr viel Erfolg. Davon hat sich die Subkultur nie richtig erholt. Aber wie es historisch immer so war: Wir tanzen und singen immer noch und lassen uns nicht unterkriegen. Die Aktionen gehen weiter, vielleicht nicht immer auf der Straße, aber die Menschen hinter diesen Aktionen machen Filme, Ausstellungen und weiterhin auch Bildungsarbeit. Es ist sehr wichtig, dass man nicht aufgibt und weiterhin für Gerechtigkeit kämpft.«

In Berlin, wo Kiziria aktuell lebt, verbindet man seinen Namen vor allem mit den STAUB Partys, die er gemeinsam mit Ines Manseder und Jan Henschen seit acht Jahren und zuletzt im Club-Kollektiv about://blank organisiert. Das Trio setzt für die Partys, die immer am ersten Samstag des Monats tagsüber stattfinden, nicht auf bekannte Namen (das Line-up wird vorher nicht bekannt gegeben), negiert also den Gagen-Poker, der vor Corona in Berlin die Arbeit für die meisten Organisatoren schwer machte. »Als wir Staub starteten, gab es in Berlin kaum Events tagsüber, wo Techno gespielt wurde — außer natürlich zur Berghain Klubnacht, aber das waren dann Sonntage«, erklärt Kiziria die Genese der Reihe. »Es waren die Zeiten, wo Techno auch kommerziell erfolgreicher wurde. Um eine Party dementsprechend zu gestalten, ging es um große Namen, um den Hype. Wir haben uns überlegt, an das Thema anders heranzugehen und so den Fokus wieder auf die Musik zu legen. Für uns geht es bei Techno um Menschlichkeit und die Gleichbehandlung aller Beteiligten. Wir haben nach jeder Party die Abrechnung gemacht, zunächst den Club bezahlt, und danach das, was übrig war, unter allen Artists gleich aufgeteilt. Egal ob jemand einen großen Namen hat und schon seit zwanzig  Jahren dabei ist oder das erste Mal gespielt hat, alle haben die gleiche Gage gekriegt.«

Natürlich steht seit dem vergangenen Frühjahr das Partyleben auch für Irakli Kiziria still — einen seiner letzten Auftritte hatte er gemeinsam mit Emika kurz vorm ersten Lockdown noch in Köln im Gewölbe —, doch er nutzte die Zeit kreativ und stellte sein Debütalbum »Major Signals« fertig, das nun auf Dial Records erscheint. Damit schließt sich für ihn ein Bogen: Die Label-Protagonisten Lawrence, Efdemin und Pantha Du Prince waren für Irakli Anfang der Nullerjahre in den, wie er es nennt »good old Times«, ein großer Einfluss.

Die Covid-19-Zeit so positiv zu nutzen, das sei kein Selbstläufer gewesen, betont Kiziria, aber er habe »seinen persönlichen Umgang mit der Situation gefunden«. Insofern ist es ihm auch wichtig, »nicht alles offen zu legen«, sondern den Hörer:innen zu ermöglichen, mit den Stücken »auf eine eigene Reise zu gehen«. Der Soundtrack dazu, »Major Signals«, strahlt eine düstere Faszination aus. Man muss sofort an die tiefschwarze Kulisse aus dem »Blade Runner«-Film denken, ein Eindruck, der gestützt wird von assoziativ aufgeladenen Track-Titeln wie »Blessings From The Future«, »Black Windows«, »Memories« und »Selfupdate«. Science Fiction als Vorstellungsraum und technischer Fortschritt als Instrumentarium auf dem Weg in diesen hinein, interessieren Kiziria primär als soziales Phänomen und nur zweitrangig als Tech-Diskurs.

Hier unterscheidet er sich markant von vielen seiner Zeitgenossen. Die omnipräsente AI-Diskussion liest er als »neue Art der Industrialisierung, die unsere Leben verändern wird und es auch schon getan hat«. Es sei spannend zu betrachten, wie wir damit umgehen und versuchen, die Prozesse dahinter zu verstehen. Für Kiziria bedeutet das, den Zwischenstand, in dem »die Maschinen noch nicht alles gelernt haben und Fehler machen« als Ausgangsbasis für die eigene künstlerische Beschäftigung damit zu nehmen und eine »Poesie des Nichtperfekten« zu kultivieren.

Hört man in die Tracks von »Major Signals« genau hinein, so spürt man die Vibrationen des Maschinenfeedbacks, erkennt dass Kiziria die Reibungen zwischen Anspruch und Realität nicht zu kaschieren versucht, sondern sie im Gegenteil ausstellt. Eine Methode, die einem Konzept folgt: »Jeder Form, Farbe, Linie auf ›Major Signals‹ hat eine gewisse Logik, genauso verhält es sich auch mit den Klängen und Geräuschen. Bewusst oder unbewusst, jeder konstruiert diese logischen Zusammenhänge — und so gesehen ist das Album ein Konzept­album.«

Wobei man darauf hinweisen muss, dass die Stücke auf »Major Signals« über einen längeren Zeitraum entstanden sind. Nicht da Kiziria so lange an ihnen gearbeitet hat, sondern da er sie zum Reifen hat liegen lassen, manche bis zu fünf Jahren. »Ich mag es, meine Sachen mit einem zeitlichen Abstand anzuhören, und wenn die Stücke dieses kritische Hören überstehen, dann landen sie in meiner Album-Playlist. Das ist wie mit einem guten Wein, der muss auch erst mal liegen, bevor er reif ist für die Welt da draußen.«

Zum Schluss möchte ich von Irakli Kiziria wissen, wie sich Covid-19 auf die Situation in Georgien ausgewirkt hat. »Es ist sehr schwierig, gerade für Kulturschaffende, es gibt keine Hilfen, kein Verständnis und wenig Solidarität«, führt er aus. »Es tut weh, wenn man sieht, dass manche ihre Platten oder Hardware verkaufen um zu überleben. Das Infektionsgeschehen ist, so wie ich es verstanden habe, aktuell unter ­Kontrolle. Aber wirtschaftlich wird es immer schwieriger und schwieriger.«

Tonträger: Irakli, »Major Signal« (Dial Records)