Dem Schmerz auf der Spur: Warren Ellis (links) und Nick Cave, Foto: Joel Ryan

Gekommen, um weh zu tun

Nick Cave und Warren Ellis haben ein Album von großer Intensität eingespielt

Man hört sofort, dass sie nur zweieinhalb Tage gebraucht haben: zweieinhalb Tage für acht Songs, zweieinhalb Tage für ein Album, das in dem so vielseitigen, schon von zahlreichen Höhepunkten geschmückten Oeuvre von Nick Cave ein weiteren markiert. Denn wer in so kurzer Zeit ein Album konzipiert und einspielt, kann gar nicht lange darüber nachdenken, »haut raus«, wird die Songs eher überfrachten als in einem Konzentrationsprozess, der nun mal dauert, entschlacken.

Aber: Wer in so kurzer Zeit ein Album raushaut, hat bereits lange nachgedacht, baut auf langjährige Beziehungen auf, vertraut in seine Kräfte, weiß um sein Gespür für die Stimmungen der Zeit. Deshalb klingt »Carnage« so fragil wie baumstammstark, so selbstsicher wie brüchig. Es ist das erste wirkliche Duo-Album von Cave und Ellis. Beide arbeiten seit 1993 zusammen, damals war Ellis noch eine eingekaufte Arbeitskraft, er arrangierte die Streichersätze für Caves 1993er-Album »Let Love In«, später wurde er festes Mitglied von Caves legendären Bad Seeds, dann schrieben sie gemeinsam Soundtracks und spielten schließlich in der Garagenrockband Grinderman. Ellis, mit seinem eigenen Trio The Dirty Three längst selbst eine Indie-Legende, ist derzeit der engste und vertrauteste musikalischer Partner Caves.

»Carnage« heißt Blutbad, Massaker, und ist ein Lockdown-Album, entstanden also in einer Zeit des Stillstandes, des Festgefrorenseins und der Isolation. Klanglich hört man zunächst diesen Zustand  heraus: in der Verweigerung, Balladen zu spielen, und stattdessen die schmachtenden Melodien auf einen pumpenden, schweren, verzerrten, dabei aber überhaupt nicht mitreißenden Beat festzunageln — so zu hören im Eröffnungsstück »Hand of God«. Diese Stimmung setzt sich zunächst fort — bis zum Kippmoment. So singt Cave im zweiten Stück »Old Times«: »The trees are black and history/ Has dragged us down to our knees/ Into a cold time/ Everyone’s dreams have died/ Wherever you’ve gone, darling/ I’m not that far behind«. In

der Verlorenheit, der Einsamkeit glimmt ein Moment der Bedrohung auf, der heranschleichenden Gefahr. Ellis kommentiert dies musikalisch kongenial durch Noise-Einsprengsel, pseudo-pathetische Streicherpassagen und einen kaum modulierten Blues, der sich durch das ganze Stück zieht. »Carnage«, das Blutbad, ist nicht so sehr das Gegenteil der frostigen Einsamkeit, sondern — im Wortsinne — das Gegenstück. Der Übergang von Eis in Feuer, Rückzug in sich selbst und expressive Attacke können sich Cave und Ellis nur als blitzartigen Schock vorstellen.

Diesen Schock spielen sie selbst nicht. Die Musik bleibt, von wenigen pointieren Ausbrüchen abgesehen, verhalten, drohend abgründig — aber den Abgrund selbst erreicht sie nicht. Aber sie handelt davon, denn in »Carnage«, dem Titelsong (und dem dritten Stück des Albums) verarbeitet Cave einmal mehr seine eigene Katastrophe, den tragischen Tod seines 15-jährigen Sohns Arthur am 15. Juli 2015. »My heart it is an open road/ Where we ran away for good/ Look over there! Look over there!/ The sun, a barefoot child with fire in his hair/ And then a sudden sun explodes!« Erst danach, hat man den Eindruck, verlässt Cave den inneren Bezirk seines Horrors — kann ihn verlassen — und spricht von den Schrecken unserer Zeit. »White Elephant«, viertes Stück und wohlkalkulierter Höhepunkt des Album (dazu später), ist ein Panorama einer Welt aus dem Gleichgewicht, und wenn der Lockdown hier eine fatale Rolle spielt, dann die, dieses Aus-dem-Takt-Geraten uns knallhart vorzuführen. »A protester kneels on the neck of a statue/ The statue says I can’t breathe/ The protester says now you know how it feels/ And kicks it into the sea«, singt Cave betont mitleidlos. Dazu wieder diese stampfenden, schleifenden Beats.

Der kalkulierte Höhepunkt des Albums ist »White Elephant« deshalb, weil es, was zuvor musikalisch nicht motiviert wurde, in eine Hymne kippt, aber so richtig — mit jubilierendem Chor, aufwärtsstrebender Melodie, dem seligen Schwelgen in Harmonie und einem echten Erlösertext: Die Zeit nah, die Zeit wird kommen, seht das Königreich im Himmel, wir allen werden nach Hause kommen. Wenige Zeile zuvor sang Cave noch » I’m coming to do you harm«, ich bin gekommen, um dir Schmerzen zu bereiten. Der Ausbruch in die Hymne, jedenfalls so wie ihn Ellis und Cave inszenieren, hat da fast etwas Ironisches, Galliges. Natürlich werden sich die Hörer auf dieses Stück stürzen, weil es Erlösung auf Bitterkeit, Harmonie auf Sarkasmus folgen lässt. Die Musiker werden daran ihren Spaß haben, denn nichts und niemand wird hier erlöst.

Oder doch? Was auf »White Elephant« folgt, es ist immerhin die gesamte zweite Hälfte des Albums, kommt wie ein gravitätischer, stellenweise großherziger Ausklang daher. Ein langer, langer Fade-out. Nein, eine Erlösung bedeuten auch diese knapp zwanzig Minuten nicht, vielmehr sind sie eine Übung in Resignation, die, wenn man sie annimmt, ein wenig nach Zufriedenheit und Einkehr klingt.

Vordergründig klingen ihre Songs immer noch nach Pop, irgendwie. Cave und Ellis schildern unser Zeitalter als eines der Extreme. Dabei geht es ihnen nicht darum, dies als neue Erkenntnis zu verkünden — wer wüsste nicht, in welchen Zeiten wir leben? Sondern darum, dieses Zeitalter in Klänge und Reime zu fassen, die eine Selbstverortung möglich machen, und die impliziert: sich dem Horror stellen können. Beiden gelingt dies beklemmend gut.

Tonträger: Nick Cave & Warren Ellis, »Carnage«, digital bereits veröffentlicht, physischer Release (LP/CD) am 28.5. auf Goliath Records (Rough Trade)