Annäherungen an das Allerschlimmste: Michaela Meise

Vielleicht doch Trost

Diesmal nur ein Nicht-Album: Michaela Meise (aus gegebenem Anlass)

Es gibt immer noch zahlreiche Fragen rund um die Anschlagsnacht des 19. Februars 2020 in Hanau: Warum waren die Polizeiapparate nicht besetzt? Warum riefen die Polizisten nicht sofort Rettungswagen und verweigerten angeschossenen Menschen, wie etwa dem späteren Opfer Ferhat Unvar, die benötigte Hilfe? Warum konnte ein polizeilich bekannter und nachweislich psychotisch-schizophrener Mensch mit eindeutigen paranoiden und rassistischen Zügen Waffenbesitzkarten erhalten? Wie konnte es dem Verfassungsschutz entgehen, dass der Täter mehrfach paramilitärische Schießtrainings in Tschechien besuchte?

Bie heute sind sie unbeantwortet. Und wo wir schon mal dabei sind: Warum eigentlich dachten wir hier in Köln, dass es okay sei, keine 24 Stunden nach der Tat fröhlich den Straßenkarneval zu eröffnen und die Weiberfastnacht zu feiern?

In dieser Ausgabe der Kolumne wird nicht etwa eine kultige Auswahl verschiedenster Veröffentlichungen des Monats zum Besten gegeben, sondern eine einzige gewürdigt: »Cemalim« von Michaela Meise.

Für die Hanauer Künstlerin Meise war der Anschlag kein Vorfall, den man einfach »überfeiern« hätte können; er war auch nicht fern, sondern tatsächlich ganz nah. Im Gespräch mit der taz betonte sie, dass sie immer gedacht habe, dass man im Rhein-Main-Gebiet, ihrer Heimat, eben weiter sei und Menschen aus Einwandererfamilien selbstverständlicher Teil des Bürgertums wären. Wenige Tage nach dem Anschlag sollte die Künstlerin ein Konzert in Marburg spielen — zum Werk Meises gehören auch musikalische Arbeiten: In den letzten Jahren vornehmlich antifaschistische Lieder aus der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, aus Deutschland und Griechenland. Sie wollte den Terror nicht unberücksichtigt, nicht unkommentiert lassen und fand in ihrem Schuldfreund aus Hanauer Tagen Fatih Alasalvaroglu einen fähigen Übersetzer für das Lied »Cemalim«, das ihr in dieser Situation angebracht schien. Das vor allen Dingen in seiner Interpretation des großen Anadol-Rockers Erkin Koray bekannte Volkslied ist ein wunderbar-trauriges Relikt, das über 100 Jahre alt ist. »Mein lieber Cemal« singt hier die Witwe Serif, die sich von ihrem geliebten, angesehenen, freundlichen Gatten, der zum Opfer einer Intrige geworden ist, verabschiedet. Interessant sind vor allen Dingen jene (womöglich unbewussten) Angleichungen an einen deutschen Rhythmus, die das Lied in eine andere Richtung schieben. Allenfalls eine passendere: Wo es im Original heißt, dass der Sohn den Platz des Vaters nicht einnehmen können, lautet es bei Meise nun so: »Selbst den kleinen Platz für dein Kind nehmen sie dir weg!«

Das beschreibt den Umgang der deutschen Dominanzgesellschaft mit dem Anschlag von Hanau — und auch jenem in Halle —  leider recht präzise. Für Opfer der rassistischen Gewalt bedeuten die Tage, Wochen und Monate danach häufig Kampf und nicht Trauer. So erinnert Meise auch an die Hinterbliebenen der NSU-Mord- und An­­schlagsserie, zum Beispiel hier in Köln, denen als Täter und nicht als Opfer begegnet wurde. Auch in Hanau ging man schludrig bis boshaft mit den Familien um. Die Eltern des Helden Vili Viorel Păun, der sich mutig in den Weg des Täters stellte, hatten erst nach sechs Tagen die Gewissheit, dass ihr Sohn unter den ermordeten Menschen war.

Gleichzeitig legt Meise wert darauf, dass dieses Lied, das beim Label »Martin Hossbach« als einseitige Vinyl herausgekommen ist, kein Lied für die Angehörigen sein könne: »Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass [der Song] sie trösten könnte. Es wären wohl eher Musiker aus der binationalen Community, die ihnen so etwas geben könnten, nicht aber eine Repräsentantin der deutschen Mehrheitsgesellschaft.« Ein treffender Einwand: Das deutsche Bürgertum war stets gut darin, sich als irgendwie mitgemeintes Opfer solcher Anschläge zu inszenieren, inklusive Lichterketten.

Dem verständlichen und verständnisvollen Einwand zum Trotz wurde das Stück »Cemalim« sowohl in der Erkin-Koray- als auch in der Michaela-Meise-Fassung bei den Gedenkaktionen gespielt. Es wäre nämlich wiederum ein Leichtes, die Opfer des Anschlags unter dem Label »türkische Einwanderer« zu subsumieren. Leicht, aber falsch. Păun war ein Rom aus Rumänien, Mercedes Kierpacz eine deutsche Romni und Nachfahrin im Porajmos getöteter Rom_nja; es starben an dem Tage Bosniaken, Bulgaren, Kurd*innen, Deutsch-Afghanen, Türken. Es war kein Angriff auf Türk*innen, es war einer gegen Alle und Jeden, der*die nicht deutsch aussah — was auch immer das bedeuten mag. Und auch die angegriffenen Orte waren kein Zufall. Die Kölner Journalistin Şeyda Kurt hielt schon einen Tage später fest: »Shisha-Bars sind für viele rassifizierter Menschen Safe-Spaces. Sie sind ihr letzter Zufluchtsort, wenn sie an der Club-Tür mal wieder abgewiesen werden, weil sie die vermeintlich falsche Haut- oder Haarfarbe haben.« Die gemeinsame Sprache an diesen Orten ist dennoch Deutsch — als vereinendes Moment. Ein Deutsch, das sich schon im Werk des Offenbacher Rappers Haftbefehl manifestiert hat, ein hybridisiertes Deutsch, das locker kurdische, arabische, polnische und türkische Vokabeln und Idiome vermengt und zusammenbringt. Ein Deutsch, das im Übrigen nichts mit einem (imaginierten) Deutschsein zu tun hat.

Insofern ist es passend, dass es auch einen deutschsprachigen Song gibt, der uns alle daran erinnert, was am 19. Februar 2020 passiert ist — und after all vielleicht doch Trost spenden kann.

Michaela Meise, »Cemalim«, Martin Hossbach/Kompakt