Neue Aspekte eines spektakulären Mordfalls

»The Dissident« von Bryan Fogel

Bryan Fogels Doku beleuchtet die Hintergründe der Ermordung von Jamal Kashoggi

Gibt es bei einem der aufsehenerregendsten politischen Morde der vergangenen Dekade noch neue Aspekte zu entdecken? Wer sich über Weltpolitik im Allgemeinen und den Nahen Osten im Besonderen auf dem Laufenden hält, konnte der Berichterstattung über den Mord an dem saudi-arabischen Journalisten und Aktivsten Jamal Kashoggi kaum entgehen. »The Dissident« dürfte dennoch viele überraschen: Die Hintergründe und Wendungen der Ereignisse am 2. Oktober 2018 im Konsulat des Saudi-Regimes in Istanbul hat der Oscar-prämierte Filmemacher Bryan Fogel (»Icarus« über den russischen Dopingskandal) ebenso investigativ recherchiert, wie er die verzweifelte Suche von Khashoggis türkischer Verlobter Hatie Cengiz und zahlreichen Dissidenten in aller Welt spannend wie einen Polit-Thriller aufbereitet hat.

Khashoggi, selbst Mitglied der saudischen Königsfamilie, lebte in den USA, wo er für als Journalist für die Washington Post arbeitete. Am 2. Oktober sucht er in Istanbul das Konsulat seiner Heimat auf, um dort eine Heiratsurkunde zu erhalten, und verlässt das Gebäude nicht mehr lebend. Lange leugnet und vertuscht das Regime um Kronprinz Mohammed bin Salman die Tat, bis schließlich doch zugegeben wird, dass der sich für Reformen einsetzende Aktivist von Männern des Geheimdienstes ermordet wurde. Eine Blamage fürs Königshaus. Diplomatische Distanzierungen sind die Folge. Elf Männer werden verhaftet, fünf von ihnen schließlich zum Tod verurteilt. Akribisch blättert Fogel die Geschichte hinter den Nachrichten auf, schafft erhellend Kontext, indem er unveröffentlichtes Videomaterial auswertet, türkische Polizeibeamte und Mitarbeiter*innen der Vereinten Nationen ebenso interviewt wie die Verlobte des Opfers und den jungen Dissidenten und Vlogger Omar Abdulaziz im kanadischen Exil. Mit ihm hatte Khashoggi kurz vor seinem Tod an einer Kampagne gegen die Internetpropaganda des Königshauses zusammengearbeitet. Nun lebt er selbst in Todesangst vor der Rache Saudi-Arabiens.

Der Film enthüllt ein Netzwerk aus Geld und Macht, das mit modernsten Spionage-Technologien arbeitet und vor kaum etwas zurückzuschrecken scheint. Ein Fall, der weit über Khashoggi hinausweist und deutlich macht, wie wenig Menschenrechte zählen, wenn sie geopolitischen Interessen im Wege stehen. Nur die eingesetzte Musik und dramatischen Computeranimationen sind für europäische Dokumentarfilm-Konventionen etwas over the top. So mancher inszenatorischen Spielerei hätte es nicht bedurft, die zusammengetragenen Daten sind haarsträubend genug.

(dto) USA 2020, R: Bryan Fogel, 118 Min., digital erhältlich ab 16.4., Kinostart mit Öffnung der Filmtheater