Forschungsreise im Split-Screen: »Die Vögel« im Schauspiel Köln, Foto: Ana Lukenda

Zersplitterte Identitäten

Stefan Bachmann bringt »Die Vögel« im Split-Screen-Stream ans Schauspiel Köln

Ihre letzte Spielzeiteröffnung in der seligen Zeit vor Corona feierte das Schauspiel Köln mit »Die Vögel«. Für seine Inszenierung der Liebestragödie erntete Intendant und Regisseur Stefan Bachmann viel Applaus. Das Stück des libanesisch-kanadischen Schriftstellers Wajdi Mouawad entfaltet vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts eine moderne Version von Romeo und Julia. In einer New Yorker Bibliothek lernen sich der deutsch-jüdische Biogenetiker Eitan Zimmermann und die verwaiste, arabische Migrantin Wahida kennen und verlieben sich sofort. Doch als Eitan seinen strenggläubigen Eltern von dem Liebesglück erzählt, nimmt das Unheil seinen Lauf.

Vater David will die Verbindung nicht akzeptieren. Er sieht die jüdische Identität der Familie in Gefahr. Der Wissenschaftler Eitan, für den so etwas wie Identität nur fauler Zauber ist, rächt sich auf seine Art: Als die Eltern abreisen, nimmt er DNA-Abstriche von ihrem benutzten Geschirr und forscht nach den genetischen Ursprüngen der Familie. Mit den Ergebnissen will er seinem Vater dessen engstirnige Vorstellungen von Herkunft und Identität unter die Nase reiben. Wer weiß, vielleicht gab es im Stammbuch der Zimmermanns ja auch den ein oder anderen Muslim? Doch die Forschungsreise, die Wahida, Eitan und seine Eltern von Berlin über New York bis nach Tel Aviv führen, bringt bald nicht nur das starre Identitätskonstrukt von Vater David ins Wanken.

Für das Lockdown-Format »Dramazon Prime« des Schauspiel haben sich Bachmann und sein Ensemble nun erneut dem Stück gewidmet. Mit der Hilfe von Kameramann Andreas Deinert, der auch schon mit Frank Castorf zusammengearbeitet hat, wird »Die Vögel« als »Split-Screen-Stream« für den Bildschirm aufbereitet. Das Geschehen auf der Bühne wird also nicht einfach in der Totalen abgefilmt. Stattdessen schaltet Deinert die Szenen in mehreren Kameraeinstellungen und Formaten nebeneinander. In der Filmwelt ist der Split-Screen altbekannt. Vor allem in den 60er und 70er Jahren wurde die Technik genutzt, etwa um räumlich getrennte, aber gleichzeitig stattfindende Ereignisse wie Telefonate einzufangen. Zwar sieht man den Split-Screen im Film immer seltener, doch durch Interview-Schalten in der Tagesschau und den Arbeitsalltag vieler Menschen vor dem Computerbildschirm ist der Split-Screen ein gewohnter Anblick geworden.

In »Die Vögel« soll dem Zuschauer auf diese Weise etwas vom subjektiven Erlebnis eines Live-Abends zurückgegeben werden. Schließlich kann er nun selbst entscheiden, welchen der vielen Perspektiven er mit seinem Blick folgt. Natürlich: Völlig autonom ist der Zuschauer auch durch den Split-Screen nicht. Und doch entfaltet der alte Filmtrick seine Wirkung. Im Split-Screen findet Bachmann die ästhetische Entsprechung für das Thema von Mouawads Stück. Die zersplitterten Kameraperspektiven illustrieren, wie die Identitätsgewissheiten der Protagonisten immer tiefere Risse bekommen und schließlich komplett zerbröckeln.

Denn so einfach, wie Wahida, Eitan und seine Eltern es sich machen, ist es nicht. Eitan, demzufolge Herkunft reiner Zufall und Identität nur »46 Chromosomen« sind, kommt mit seinem rationalistischen Verständnis spätestens in Tel Aviv an seine Grenzen. Der Herkunft seiner Familie auf der Spur, wird er Opfer eines Terroranschlags und gerät zwischen die Fronten des politisch-kulturellen Konflikts. Auch Wahida, die bisher spielerisch mit ihrem Grenzgängertum zwischen den Kulturen umgegangen ist, wird schmerzlich mit ihrer Identität als Araberin konfrontiert. Weil sie aussieht, wie sie aussieht, wird sie nach dem Anschlag als Terroristen verdächtigt. Doch auch die Reinheitsvorstellungen vom stolzen Juden David Zimmermann erhalten in seiner Heimat traumatische Risse. Mit dem Split-Screen fängt Deinert diese Brechungen auch optisch ein.

Es gibt viele dramatische Wendungen in Mouawads »Vögel«. Einige von ihnen schleifen gefährlich nah an der Grenze zum Kitsch. Bachmann und sein Ensemble kriegen aber noch die Kurve. Statt die Emotionen zu befeuern, kühlt er die Atmosphäre durch ein minimalistisches und dunkles Bühnenbild herunter. Musik wird nur zurückhaltend verwendet. Vor allem sind »Die Vögel« aber so gut, weil Bachmann ein herausragendes Ensemble zur Verfügung steht. Bruno Cathomas spielt Eitans Vater David nicht als lauten Grobian, sondern als fast schon apathischen Melancholiker, aus dem nur selten, und dafür umso brutaler der Stolz und das Trauma seiner Herkunft brechen. Lola Klamroth als Wahida brilliert, indem sie den Wandel ihrer Figur von der verspielten Intellektuellen zur zornigen Kämpferin für die Rechte der Muslime gefühlvoll vermittelt. Für das Stück haben die Schauspieler Sprachunterricht genommen, um es in Deutsch, Englisch, Hebräisch und Arabisch auf die Bühne zu bringen. Das macht Eindruck und fügt der Zersplitterung der Identitäten eine weitere Ebene hinzu. Zusammen mit der feinsinnigen Kameraarbeit von Andreas Deinert gelingt so ein herausragendes Theaterexperiment.