Dazwischenhängen als Prinzip: Mithu Sanyal, Foto: Guido Schiefer

Ich sind mehr als drei Buchstaben

Mit viel Empathie schildert Mithu Sanyal die Kompliziertheit von Identitätspolitik

Seinen Roman am Campus einer Universität anzusiedeln, ist eine Win-Win-Situation. Als Autorin kann man seine Figuren mit den interessantesten Ideen spielen lassen, und das Setting erlaubt es, auch nicht-normative Beziehungskonstellationen mit der nötigen Glaubwürdigkeit auszustatten.

Mithu Sanyal kostet in ihrem ersten Roman »Identitti« beide Vorzüge voll aus. »Identitti«, das ist das Blogger-Alias der Hauptfigur Nivedita. Sie studiert in Düsseldorf Postcolonial Studies bei der charismatischen Professorin Saraswati. In ihren Seminaren hört Nivedita zum ersten Mal von »weißen Privilegien« und der Konstruiertheit rassifizierter Zuschreibungen: »Ich bin hier richtig, dachte Nivedita. Der Gedanke erschreckte sie ebenso sehr wie er sie erregte«. Nivedita, Tochter einer Deutsch-Polin und eines Inders und darin ein Alter Ego der Autorin, findet in Saraswatis Vorträgen eine Sprache für ihre eigene Existenz. Umso größer ist der Schock, als herauskommt, dass Saraswatis Existenz auf Lügen aufgebaut hat. Sie ist selbst eine Weiße: Sarah Vera Thielmann.

Diese Figuren-Konstellation lädt zu Häme und Spott ein. Aber Mithu Sanyal verarbeitet sie zu einer Art sokratischem Dialog zwischen einer Lehrerin, die ihre Autorität verloren hat, und einer Schülerin, die trotz der Enttäuschung ihre Beziehung nicht aufgeben möchte. Saraswati verteidigt ihre Lebenslüge mit dem gesamten Apparat postkolonialer Theoriebildung: Wenn Ethnizität eh nur ein Konstrukt ist, warum sollte sie sich nicht als indische PoC neu erfinden? Nivedita widerspricht der einst bewunderten Dozentin, und setzt so ihre Identitätsbildung unter negativen Vorzeichen fort. Dokumentiert wird all dies auf ihrem Blog und begleitet von den Debatten auf Twitter, deren Prota­gonist*innen Sanyal ebenso kenntnisreich wie liebevoll parodiert.

Denn »Identitti« ist eigentlich eine Liebesgeschichte: Wer Theorie liebt, kann in dieser Liebe zu sich selbst finden. Den größten Liebesbeweis liefert Mithu Sanyal im Anhang gleich mit: Die Quellenangaben für die zitierten Werke und eine kommentierte Bibliografie. Hach!

Mithu Sanyal: »Identitti«, Hanser, 432 Seiten, 22 Euro