Beengte Wohnverhältnisse, kein Homeoffice: Am Kölnberg ist die Inzidenz an manchen Tagen sechsmal so hoch wie in Sülz

Wo das Virus wütet

Eine Kölner Studie zeigt, dass arme Stadtteile zu Corona-Hotspots werden

Zwischen den Hochhausschluchten stehen Jugendliche und diskutieren lautstark, ob sie am neuen Corona-Testzentrum einen Abstrich machen lassen sollen. »Haste zu­gehört? Hier ist über 300!«, sagt ein Junge im schwarzen Hoodie, die meisten folgen ihm. Einige Meter weiter, zwischen Bolzplatz und Kiosk, steht ein weißer Pavillon. Das Corona-Testzentrum wirkt winzig im Schatten der Wohnblöcke.

Anfang April hat die Stadt fünf Testzentren eröffnet: am Kölnberg, in Chorweiler, Finkenberg, Kalk und Mülheim. Zuvor gab es dort nahezu keine Möglichkeit, sich auf Covid-19 testen zu lassen. Dabei wütet das Virus vor allem in den armen Quartieren, wo Menschen beengt wohnen und nicht im Homeoffice arbeiten können. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts, die mit dem Kölner Gesundheitsamt erstellt wurde, präsentierte jetzt Zahlen. Von März 2020 bis Januar 2021 haben Wissenschaftler in Köln 102.000 Datensätze ausgewertet und in allen 86 Stadtteilen den Zusammenhang zwischen den sozioökonomischen Lebensbedingungen und dem Infektionsgeschehen untersucht. Das Ergebnis: Auf der Schäl Sick reiht sich ein Corona-Hotspot an den nächsten, von Flittard im Norden bis Porz im Süden. Während es am Anfang der Pandemie vor allem in den reicheren linksrheinischen Stadtteilen Infektionen gab, weil die Menschen das Virus aus dem Urlaub oder von der Geschäftsreise mitbrachten, trifft es jetzt vor allem sozial Schwache. In Chorweiler, Kalk oder am Kölnberg ist die Inzidenz an manchen Tagen dreimal so hoch wie im städtischen Durchschnitt - oder auch sechsmal so hoch wie in Sülz. Mitte April lag etwa die Inzidenz in Kalk bei 322, in Sülz dagegen bei 62.

Dass die 4000 Menschen aus sechzig Nationen am Kölnberg die Tests überhaupt nutzen, ist vor allem Amir Rakhsh-Bahar zu verdanken. Jeden Tag läuft er durch das Hochhaus-Quartier und erklärt, wie man Ansteckungen vermeidet, warum Tests wichtig sind, welche Masken schützen. »Dass ich mal Corona-Erklärer würde, hätte ich nicht gedacht«, sagt der 33-Jährige, der seit 2010 im Meschenicher Jugendzentrum arbeitet. Rakhsh-Bahar ist ein Glücksgriff für die Menschen am Kölnberg, er spricht außer Deutsch und Englisch fließend Persisch und Türkisch. Vor allem aber ist der Streetworker selbst in einem der neun Wohnblöcke aufgewachsen. Wenn Rakhsh-Bahar den Menschen etwas sagt, hat das Gewicht. »Ich bin einer von ihnen«, sagt er. »Das kommt gut an.« Der Sozialarbeiter kennt nicht nur die Kinder und Jugendlichen, sondern auch deren Eltern, viele sind Freunde seit seiner Kindheit.

»Ohne Aufklärung läuft es hier am Kölnberg nicht, denn es gibt Hemmschwellen auf vielen Ebenen«, sagt Amir Rakhsh-Bahar. Manche hätten Angst, ihren Ausweis zu zeigen, andere seien Analphabeten oder fürchteten eine Quarantäne in ihrer viel zu kleinen Wohnung.

Die zwei höchsten Blöcke am Kölnberg haben 24 Stockwerke — und nur zwei Aufzüge. Eine ältere Frau, die schwere Einkaufstüten nach Hause trägt, sagt: »Ich habe Angst mich anzustecken. Ich muss in den 11. Stock, hochlaufen kann ich nicht.« Oft müsse man bis zu 15 Minuten auf den Fahrstuhl warten. Wenn er endlich da sei, drängten sich viel zu viele Menschen hinein. Die Fenster in den Hausfluren sind verriegelt, damit die Menschen nicht hinunterspringen oder Müll rauswerfen - so fehlt hier der Luftaustausch, Aerosole können nicht abziehen.

Über die Risikofaktoren Vorerkrankung und Alter wird viel gesprochen, über Armut bislang kaum. Der 21-jährige Mattis Dieterich, seit zwei Jahren SPD-Vorsitzender im Bezirk Chorweiler, möchte das ändern. Seit Monaten fordert er ein Corona-Testzentrum vor Ort. »Ich bin mächtig wütend«, betont der Jura-Student. »Da muss erst eine Studie kommen, damit die Stadt ihrer Verantwortung für die Menschen in den Sozialräumen nachkommt.« Wer einem besonderen Risiko ausgesetzt sei, gehöre besonders geschützt, fordert Dieterich. »Stattdessen betreibt die Stadt eine Zwei-Klassen-Pandemiebekämpfung, die auf Kosten der Menschen im Kölner Norden geht und die soziale Spaltung vorantreibt.« Als Reaktion auf die Fraunhofer-Studie hat die Stadt neben den Testzentren mehr Aufklärungsarbeit und Unterstützung der Schulen angekündigt. »Davon spüren wir noch nichts«, so Dieterich. Deshalb hat die Bezirksvertretung in Chorweiler Mitte April einen Antrag verabschiedet, der neben einem gut erreichbaren, niederschwelligen Impfzentrum vor Ort auch mehr Prävention und Sozialarbeit fordert. »Wenn wir uns jetzt nicht etwas einfallen lassen, floppt die Impfstrategie in Chorweiler«,  mahnt Dieterich. »Das hat auch gesamtstädtische Folgen.« Um bis zum Herbst eine Impfquote von 60 Prozent in Chorweiler zu erreichen, sollte der Impfstoff  gerechter verteilt werden. »Die Impfdosen müssen proportional zu den Einwohnern verteilt werden und nicht pro Arzt«, sagt der 21-Jährige mit Blick auf die wenigen Arztpraxen in Chorweiler. Sonst komme dort, wo das Virus besonders wütet, viel zu wenig an. »Wir können die Menschen hier nicht immer weiter abhängen. Wir verlieren sie.«