Mal mit anderen Augen sehen – Klopapier

Falter und Knüller

Materialien zur Meinungsbildung /// Folge 230

Sind Sie bereit für ein intimes ­Geständnis? Als neulich mein Klopapiervorrat zur Neige ging, spürte ich es: dieses März-2020-Feeling, wie damals, als das Virus sogar die Supermarktregale leerzufressen schien. Die Erinnerung kam als diabolischer Juckreiz der Besorgnis. So vieles geht bei mir ständig zur Neige: Bier, Brot, Tiefkühl­pizza, Hoffnung. Damit komme ich klar, es geht ohne. Aber Klopapier?

Die Vorratshaltung gilt als spießig, ängstlich, ja, neurotisch. Legen denn heutzutage nicht nur Wirrköpfe Vorräte an und warten kata­strophenlüstern auf die Landung der Ufos oder den Polsprung? Dabei wäre es auch für besonnene Menschen nützlich, Dosentomaten und Druckerpapier, Knäckebrot und Klopapier vorrätig zu halten. Was aber zehntausend Jahre das Überleben der Menschheit sicherte, ist von der Ideologie des just-in-time abgelöst worden. Nun sind wir wieder Schnäppchen-Jäger und Treuepunkte-Sammler, unsere Jagdgründe sind bloß andere, kartographiert auf den Bildschirmen, organisiert in Logistikzentren, Shopping Malls, Einkaufsstraßen.

Wir vertrauen darauf, dass alles immer verfügbar ist. Containerschiffe, Sattelschlepper, Frachtflug­zeuge und Heerscharen von Paketboten werden bereits losgeschickt, bevor wir überhaupt wissen, dass wir den ganzen Plunder haben wollen. Aber dann geschieht Unfassbares, das System kollabiert: Ich habe kein Klopapier mehr. Und die Geschäfte sind geschlossen. Ich bin völlig von der Rolle. Wie wertvoll doch Klopapier ist! Diese banale, billige, schambesetzte Ware.

Die Klopapierrolle ist ein idealer Gegenstand, der seine Funktion in der einfachsten und zugleich zweckmäßigten Form der Gestaltung anzeigt. Man kann sie nicht verbessern; gleichwohl gibt es ­Varianten, und dann ist Skepsis geboten: Es gibt Klopapier in mehreren Stärken. Das Papier ist zwei-, drei- oder gar vierlagig. Das ist wie bei Nassrasierern, die mit immer mehr Klingen ausgestattet werden. Ich finde, es darf hier kein Weiter-so geben. Wird Klopapier bald 40-lagig sein? Dann passen nur noch zwei, drei Blatt auf eine Rolle — wollen wir das? Ich denke, die Dreilagigkeit hat sich mit guten Gründen etabliert. Sie ist ein tragfähiger Kompromiss zwischen haptisch-taktilem Behagen und dem gebotenen Primat der Funktio­nalität.

Nun, da wir dies geklärt haben, ließe sich dazu übergehen, dass die Klopapierrolle, wie man so sagt: intuitiv zu benutzen ist. Die Klopapierrolle ist ihre eigene Bedienungsanleitung. Und doch gibt es kulturelle Unterschiede. Laut Umfragen falten hierzulande neun von zehn Menschen das Klopapier vor der Anwendung. In den USA, zum Beispiel, wird das Papier aber geknüllt; Klopapier-Fachleute sprechen von der »angelsächsischen Methode«. Falter oder Knüller — wir sind alle Menschen und über alle Grenzen hinweg verbindet uns die Vernunft. Wie aber kann es da sein, dass manche die Klopapierrolle falsch anbringen? Das Papier muss doch nach außen hängen, nicht zur Wand, oder? Die Vorteile sind schnell einzusehen. Dennoch gibt es Menschen, die das Klopapier in dieser absurden Weise anbringen! Gedankenlosigkeit? Die Macht der Gewohnheit? Herr Hirmsel von Trinkhalle Hirmsel hustet ja auch immer noch in die Hände.

Mit diesen Gedanken ging ich zu Gesine Stabroth, um eine Rolle Klopapier abzuholen. Der spöttische Blick konnte mein Glück nicht trüben. Ich trug die Klopapierrolle wie etwas sehr Kostbares nach Hause. Ich hängte sie in die Vorrichtung, wie ein Edelstein in einer schönen Fassung prangte sie dort — aber aus Jux einfach mal falsch herum! Ich fühlte mich wild und frei. Man kann jederzeit sein Leben ändern, schien diese Rolle zu sagen. Ja, bloß ein Knüller werde ich nie.