Wiener Gemüseorchester: Zu Gast beim großen Kulturfinale des Sommerblut Festivals, Foto: Katsey Photography

Ein Hauch von Resilienz

20 Jahre Sommerblut: Das »Festival der Multipolarkultur« feiert Jubiläum — mitten in der Pandemie

Geahnt hatte es niemand. Als im vergangenen Jahr Programmhefte für das Sommerblut Festival verteilt wurden, schien die Aussicht auf eine weltweite Pandemie, die alles lahm legen würde, so weit entfernt wie der Huanan Seaford Markt in Wuhan. Ziemlich weit weg also. Und dann ging plötzlich doch alles ganz schnell. Theater wurden geschlossen, europäische Grenzen abgeriegelt. Da durch zu kommen, mit einer internationalen Kompanie? Völlig utopisch.

»Kultur trotz(t) Corona«, titelte das Sommerblut Festival dann aber doch, kurz nach Beginn des ersten Lockdowns. Kurzerhand wurden Produktionen von der Bühne ins Netz verlegt, Seniorinnen für ein virtuelles Theaterstück mit Laptops ausgestattet und Pakete geschnürt, die das Publikum vorab nach Hause geliefert bekam. »Wir sind nicht resigniert, wir sind gespannt«, sagte Festivalleiter Rolf Emmerich damals. Das Sommerblut verbreitete einen ersten Hauch der Resilienz, von der in den kommenden Monaten noch viel die Rede sein würde. Und heute?

20 Jahre feiert das »Festival der Multipolarkultur«, ein Jubiläum, mitten in der Pandemie. Ob er in den vergangenen Wochen mal daran gedacht habe, alles hinzuschmeißen, fragen wir Rolf Emmerich im Zoom-Interview. Energisch schüttelt er den Kopf. »Das kam für uns alle nicht in Frage.« Schon allein deswegen nicht, weil man die Künstler*innen nicht hängen lassen wollte. Denn das Sommerblut basiert auf der Idee der Projektförderung: Nur was am Ende wirklich auf die Bühne kommt, wird vom Geldgeber finanziert, also von Verwaltungen, Institutionen und Stiftungen. Im Fall einer Absage muss alles, bis auf ein Ausfallhonorar, zurückgegeben werden.

»Wir stehen da schon unter einem enormen Druck«, sagt Rolf Emmerich. Andererseits hätten sie in den letzten Monaten viel Zeit gehabt, sich vorzubereiten. »Dass wir auch in diesem Jahr kein normales Festival werden machen können, haben wir uns schon gedacht.« Statt der wie sonst angesetzten zwei Wochen, in denen das komplette Programm gezeigt wird, hat sich das Sommerblut deswegen für eine andere Lösung entschieden, eine sehr viel praktikablere: Ab dem 7. Mai werden über das ganze Jahr hinweg die geplanten Produktionen gezeigt, die Termine werden mit kurzer Vorlaufzeit auf der Internetseite veröffentlicht.  Kann ein Projekt aufgrund der Inzidenzzahl nicht im Mai stattfinden? Okay, dann vielleicht im Juli oder September. »Wir hoffen, auf diese Weise möglichst viele Stücke auf eine echte Bühne zu bringen«, sagt Rolf Emmerich. Andernfalls könne man immer auch auf alternative Formate zurückgreifen. Wie etwa bei »Knock Out« von Regisseurin Elisabeth Pleß, gemeinsam mit jungen Inhaftierten der JVA Wuppertal-Ronsdorf. Allein im März wurde der Probenbeginn zwei Mal verschoben, wann sie Zugang zum Gefängnis bekommen würde — ungewiss. Möglich, dass daraus am Ende keine Theaterperformance, sondern ein Film wird.

Alternative Pläne hat auch Anna-Mareen Henke im Hinterkopf. Sie ist künstlerische Leiterin des Festivals und neben Rolf Emmerich die zweite Antriebskraft, die das Festival seit einem Jahr durch die Krise manövriert. Ja, es brauche viel Widerstandskraft, um ein Programm dieser Bandbreite in der Pandemie zu organisieren, erzählt sie. Und ja, es sei manchmal frustrierend. »Eine Entscheidung, die wir heute treffen, kann morgen schon wieder überholt sein.« Deswegen habe man von vornherein auf Stücke gesetzt, die unter großer Wahrscheinlichkeit werden stattfinden können — im Freien und mit Abstand. Zusammen mit dem Theater im Bauturm plant das Sommerblut einen Audiowalk im Äußeren Grüngürtel. Und bei »A Walk In My Shoes« kann das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes in die Schuhe eines anderen schlüpfen und sich per Kopfhörer dessen Geschichte erzählen lassen.

Doch selbst wenn Hygieneauflagen in den kommenden Monaten gelockert werden sollten: Das Sommerblut ist ein inklusives Festival, eines, das Menschen anspricht, die zu Risikogruppen gehören. »Umso wichtiger, größtmögliche Sicherheit zu bieten«, sagt Anna-Mareen Henke. Mit einem digitalen Begegnungsraum wollen sie auch ihnen den Zugang zum Festival ermöglichen, unter Hochdruck liefen bisher Testreihen, um ihn möglichst barrierefrei zu gestalten. »Es ist zweischneidig: Auf der einen Seite gibt es noch viele Hürden, die es auf dem Weg zur Inklusion im Netz zu überwinden gilt. Andererseits erreichen wir dort viele, die nicht zu unseren Veranstaltungen kommen können.«

16.000 Besucher*innen zählte das Sommerblut allein bei einer einzigen digitalen Premiere im vergangenen Jahr. Vierzigmal mehr, als in den Premierenort Club Bahnhof Ehrenfeld gepasst hätten. Aus ganz Europa, sogar aus Australien, sei das Publikum gekommen. »Hätte man mich vor drei Jahren gefragt, ob wir hybride Formate nutzen wollen, hätte ich gesagt: Auf keinen Fall«, erzählt Rolf Emmerich und lacht. Doch, immerhin, das sei das Gute an der Pandemie: »Sie hat uns auf neue Ideen gebracht — und ironischerweise mit sehr vielen neuen Menschen in Kontakt.«

sommerblut.de