Foto: Gabriele Summen

Der Mann, der keine Liebeslieder schreibt

Mit Staatsakt betreibt Maurice Summen eines der wichtigsten deutsche Labels. Auf seinem eigenen Album »PayPalPop« bürstet er Erwartungen gegen den Strich

Von Alfred Hilsberg, der einst das Schlagwort »Deutsche Welle« geprägt hat und Inhaber von What’s so Funny About it war, wo etwa Blumfeld ihr Debüt veröffentlichten, grassiert die unvernichtbare Anekdote, dass er sein Label vom Bett aus dirigiert habe, unter diesem ein Geldkoffer, aus dem bei Hausbesuchen aufgebrachter Musiker die Tantieme in Faustmengen (oder auch weniger) herausgefischt wurden. Christoph Ellinghaus dagegen, der seit 30 Jahren die Geschicke von City Slang leitet, wo zum Beispiel Lambchop, Caribou und Roosevelt ihr Zuhause haben, repräsentiert den Typus elder statemen mit Showmasterhumor und hoher Verbindlichkeit.

In der Mitte zwischen diesen zwei Helden deutscher Musikgeschichte kann man Maurice Summen ansiedeln. Summen, 1974 in Stadtlohn in Nordrhein-Westfalen geboren, regiert seit 2003 von Berlin aus über sein Staatsakt-Imperium, das von Beobachtern der bundesdeutschen Labelszene gerne mit dem Arnold Schwarzenegger zitierenden  Zusatz »last label standing« beschrieben wird, ein Verweis darauf, dass es neben Tapete/bureau b aktuell das einzige noch voll funktionsfähige Label für Musiker aus Deutschland ist. Und so liest sich der Labelkatalog wie ein Who-is-Who der hiesigen Szene: Christiane Rössinger, Stereo Total, Die Sterne, Mutter, Andreas Dorau, Locas In Love, Frank Spilker Gruppe, Carsten Meyer, Isolation Berlin, und gerade unter Vertrag genommen: die Kölnerin Hanitra Wagner mit ihrem Projekt Vaovao.

Sie alle profitieren von der Energie Summens, der Obelix gleich als Kind in einen Topf mit Wundertrunk gefallen sein muss. Wie sonst ist es zu erklären, dass er nicht nur die Geschicke des Labels immer 24/7 im Visier hat, sondern — und das unterscheidet ihn von den beiden erwähnten Labelbetreibern — auch noch selbst als Musiker aktiv ist: mit seinen Trios Die Türen und Der Mann, gerne aber auch mit einem Haufen Freundinnen und Freunden. Sein aktuelles Solo-Album »PayPalPop« ist nach dem Netzwerk-Prinzip entstanden. Seine Gesangslinien entdeckte er im Internet und verschickte sie umgehend an die unterschiedlichsten Produzenten.


Maurice, kannst du uns teilhaben lassen an den Verhandlung um Zeitbudgets zwischen dem Musiker Summen und dem Labelbetreiber gleichen Namens?

Es vergeht kein Monat, in dem ich nicht an Musik arbeite. Das kann ich mir ja auch nicht aussuchen. Die Song-Ideen sind plötzlich da und wollen verarbeitet werden! Aber, klar: Im Büroalltag bleibt mir wenig Raum zur eigenen kreativen Entfaltung. Im Office spielt sich ein Großteil der Arbeit nunmal nicht in Ab­leton-Live sondern in Excel ab: Geldnoten statt Musiknoten. Aber ich empfinde die Zusammenarbeit mit all den tollen Musi­ker:in­nen als sehr bereichernd und hochinspirierend. Es ist am Ende kein wirklicher Verhandlungsprozess, sondern alles eine Frage der Organisation. Von Zeit zu Zeit wachsen mir die Dinge aber auch mal komplett über den Kopf. Ich bin, ehrlich gesagt, ein lausiger Buchhalter und habe Angst vorm Steuerberater.


Denkst du, dass du ohne das Label heute andere Musik produzieren würdest?

Schwer zu beantworten. Ich weiß nur, dass ich mir dieses Leben im Rahmen meiner Möglichkeiten so ausgesucht habe — und den Soundtrack dazu produziere ich selbst.


Was kommt bei dir zuerst: die Textidee oder die Komposition?

Meist die Refrains. Und die kommen bei mir praktischerweise immer als Text mit passender Melodie aus dem Ei geschlüpft.


Hast du bei den Stücken für »Pay­PalPop« den Produzenten ein Thema vorgegeben?

Die Produzenten haben fast alle nur die Gesangs-Spuren zugeschickt bekommen, die ich auf dem iPhone aufgenommen habe. Dazu habe ich ihnen Arrangement-Ideen und Sound-Referenzen geschickt und die Texte übersetzt. Das hat oft sofort für gute Laune gesorgt.


Wie kam es zu der Idee mit einem Netzwerk internationaler Produzenten zusammenzuarbeiten?  

Das kam während der sogenannten zweite Welle. Ich war gerade dabei mit Ramin Bijan Songs für ein neues Album von Der Mann zu schreiben, wurden dann aber vom Lockdown ausgebremst. Ich wollte trotzdem mit anderen Menschen zusammen Musik machen und fand es verlockend, mich komplett in die Virtualität zu begeben. Naja, was heißt Virtualität, es sind ja Menschen, denen du dort begegnet. Diese Portale hatte ich schon vorher mit einer gewissen Neugierde verfolgt, die werden in sozialen Medien massiv beworben;  zumindest in meinen Musik-Nerd-Timelines ist das so. In urbanen Popgefilden ist es ja seit Jahren nichts außergewöhnliches, sich auf solchen Plattformen nach Ghost-Producern für seine Songs umzuschauen.


Wie hat sich die Auswahl der Personen und die Zusammenarbeit vorzustellen?

Auf diesen Portalen gibt es natürlich diese mit 5-Sternen bewerten Premium-Accounts. Aber es gibt eben auch sehr viele junge Talente zu entdecken, die sich noch nicht profilieren konnten. Da habe ich mich nächtelang durch unzählige Profile gewischt. Bei Interessanten Leuten bin ich dann hängengeblieben und habe mir ihre Referenzen angehört. So wie das auf Dating-Portalen eben läuft: Show me whatcha got! Nicht alle Kontakte haben gefunkt. Reibungsverluste gab es wenige. Dafür aber ganz viele wunderbare kreative Missverständnisse.

Wo leben denn deine Co-Produ­zent:innen des Albums?

Around the world! Von Russland bis Südafrika, von Spanien bis Jamaica. Von Indien bis nach Kanada. Aber genau das ist ja unter sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Aspekten das fragwürdige an so einer Produktion. Allein zu sehen, was es für ein Preisgefälle innerhalb Europas gibt. Du findest die gleiche Qualität in Italien zur Hälfte des Preises wie in Schweden. Auf der ganzen Welt freuen sich junge kreative Menschen über einen Auftrag. Und der wohlhabende Produzent aus Deutschland kommt aus dem Lachen nicht mehr raus, wenn er die Preise mit denen hier vor Ort vergleicht. Aber Fragen nach den Lebensumständen der Menschen, die du dort anheuerst, stellen sich ja gar nicht erst. Es dreht ich alles nur um ihr Leistungsprofil.


Ist diese Internationalität von besonderer Bedeutung in einem Jahr, in dem wir alle plötzlich kulturell eingeengt in unseren Mini-Biotopen sind?

Unsere Lebensentwürfe sind ja eigentlich der Gegenentwurf zu Regionalität und Nationalität. Im Pop war es schon immer möglich, im Sound zu reisen. Weil das Wesen der Musik auf eine ähnliche Art virtuell ist, wie es das Internet ist. Oder ein gutes Buch. Ganz pathetisch ausgedrückt: Es ist die Seele, die reist. Anders gefragt: Wer war schon auf Jamaica in Lee »Scratch« Perrys Black Ark Studio, in Madchester zu wilden Raves oder bei den HipHop-Battles mit Grandmaster Flash zugegen? Mit Joni Mitchell im Laurel Canyon? Oder mit den Beatles in der Abbey Road? In Vivien Westwoods und Malcolm McLarens Sexshop-Laden? Im Studio54? Trotzdem haben wir das Gefühl, diese Welten irgendwie zu kennen. Ich war mit dieser Produktion virtuell überall auf der Welt unterwegs. Aber in Wirklichkeit saß ich nur zuhause in einem kleinen provisorischen Arbeitszimmer mit funzeligem Licht.


Siehst du Leitthemen, die das Album prägen?

Ich glaube, es gibt ein paar zentrale Themen, die mich seit Jahren umtreiben. Die variiere ich auch auf diesem Album: Zwangsindividualisierung, mangelnde Solidarität, Sozialabbau und eine große Skepsis gegenüber dem, was wir kulturell als Mainstream und den Kapitalismus dahinter bezeichnen.Mich interessieren die Mechanismen von der Produktion bis zur Verwertung. Und immer auch die politischen Rahmenbedingungen. Wie meine Tochter mal so schön gesagt hat: »Alle schreiben tolle Love-Songs, nur mein Vater nicht!« Wenn ein Song endlich fertig produziert ist, gebe ich ihn genau in die Maschinerie hinein, die ich in meinen Lyrics kritisiere. So geht das mit den Widersprüchen in der Kunst: Miete, Strom, Gas.


Was triggert den Songwriter Maurice Summen?

Ich kann da nichts ausschließen. Meine Frau, meine Familie oder die Labelarbeit bis zu einem lustigen Tweet. Von der lokalen Wohnungspolitik bis zu Fragen nach außerirdischem Leben in irgendeinem Clickbait-Post. Ein gutes Buch, der nächste Steuerbescheid, Freund:innen, ein toller Song, ein guter Groove oder ein Mensch im Vorbeigehen auf dem Bürgersteig, mit seinem öffentlich aufgeführten Telefongespräch. Ich kann es mir einfach nicht aussuchen, wann und wo ich angtriggert werde. Es passiert. Ich werde jeden Tag aufs Neue von der Welt und mir selbst überrascht.


Wovon träumt Maurice Summen im April 2021?

Ich träume davon, das Raubtier mit Namen Kapitalismus einzusperren. Ein Stück weit müsste ich mich also selbst einsperren lassen! Auch ich vertrete die Meinung, dass wir die zentralen Fragen um die Zukunft auf diesem Planeten auf gar keinen Fall allein einem liberalen, unternehmerisch getriebenem Geist und seinen politischen Lobbyisten und Hand­langer:innen überlassen dürfen. So sehr ich die Vorzüge einer liberalen Politik als Unternehmer und auch als Künstler selbst zu schätzen weiß! Auch ich habe schon sehr viele schlechte Erfahrungen mit dem trägem Staatsapparat gemacht. Da muss ich mir nur die Corona-Politik des vergangenen Jahres anschauen: Komplett zum Verzweifeln, klar.

Maurice Summen, »Paypalpop«, erscheint am 14.5. auf Staatsakt