Klangliche Müllvermeidung: Leon Vynehall, Foto: Ninja Tunea

»Das Album macht mich verwundbar«

Leon Vynehall vereint auf seinem neuen Album introspektive Klangforschung und Club-Euphorie

Wenn man eine Platte von Leon Vynehall hört, dann sind da stets diese kleinen, feinen Eigenheiten: Man hört es kaum, doch raschelt und zirpt es irgendwo Hintergrund; dazu gesellen sich fantastische orchestrale Samples, mit denen der Brite seine elektronischen Kompositionen bedeutsam und lebendig wirken lässt. Auch wenn die Rhythmen oft dem Club-Kodex gehorchen, demonstrieren die Tracks mit ihrer Romantik, dass hier mehr Intention am Werk war, als nur den nächsten Dance-Hit abzuliefern.

Das galt schon für sein erstes Album »Nothing Is Still« (2018), auf dem sich Vynehall mit der Auswanderungsgeschichte seiner Großeltern in die USA beschäftigte. Herauskam ein Gesamtkunstwerk samt Film und Buch. Jetzt soll »Rare, Forever« noch persönlicher sein, es ist eine Reise in die eigene Psyche.

Aber noch mal einen Schritt zurück: Mit seiner 2014 erschienenen Doppel-EP »Music For The Uninvited«, die sowohl club-funktionale wie auch gänzlich musikalische Stücke vereinte, gelang Vynehall ein kleiner internationaler Durchbruch. Es folgten Gigs im Ausland, man hatte ihn als interessanten neuen Produzenten auf dem Radar. Zurückblickend erinnert sich Vynehall, der mittlerweile in Los Angeles lebt: »Es ist jetzt genau sieben Jahre her und es fühlt es sich an, als hätte ich gerade mal geblinzelt. Komisch zu wissen, dass tatsächlich so viel Zeit vergangen ist. Aber auch schön, jetzt von hier aus zurückzublicken und wirklich jede Sekunde davon wertschätzen zu können«.

Zwar fußte die Aufmerksamkeit auf seinen Produktionen für den UK-Underground, trotzdem war Leon Vynehall nie dieser typische House-Produzent. Er versuchte sich stets an anderen Genres und bewies mit seinem untypischen, jegliche Genregrenzen sprengenden Eintrag für die DJ-Kicks Mixserie seine musikalische Vielfalt. Ein echtes Album musste schon mehr als eine Ansammlung von Clubtracks werden. Wie umfassend das Projekt dann aber letztlich wurde, überraschte auch den Künstler selbst. »›Nothing Is Still‹ war sehr bibliographisch. Es ging um meine Großeltern und ihre Emigration nach New York. Dazu schrieb ich ein Buch und wir machten diese Live-Tour mit einer neunköpfigen Band. Es war also dieses ganze Ding, das von vorn bis hinten etwa sechs Jahre meines Lebens eingenommen hat! Und dann kam irgendwann dieser Moment nach der allerletzten Show beim Field Day in London, wo ich dachte: Wow, okay, und was mache ich eigentlich jetzt!?«

Mit diesem Gedanken ging die Suche von Neuem los. Was erwarten die Leute von ihm? Was will er eigentlich selbst erzählen? Es folgte ein erster Entwurf, bei dem allein der freie Ausdruck des Künstlers im Mittelpunkt steht: Den Schaffensprozess mit abstrakter Malerei vergleichend sollte alles passieren dürfen, immer aus dem Moment heraus. Doch bald musste Vyenhall einsehen, dass er doch so etwas wie einen Richtungsweiser brauchte. »Ich hatte so viele Ideen und wollte alles davon zeigen, aber am Ende klang es eher wie einziges Kuddelmuddel aus Geräuschen. Wie bei einem Radio, das drei verschiedene Sender gleichzeitig reinkriegt, und am Ende kommt nur Krach heraus. Das hat mir einen ganz schönen Dämpfer versetzt. Dabei habe ich gelernt, dass ich nicht einfach Songs um ihrer selbst willen schreiben kann. Ich brauche einen Grund, für das was ich tue. Ich will die Welt nicht mit noch mehr Geräuschen vollmüllen.«

Schließlich waren es die antiken Philosophen und ihre großen Fragen nach dem Sinn, den Hintergründen für das eigene Tun, die seinem Album die nötige Form gaben. So ist »Rare, Forever« ein unverhülltes  Abbild der eigenen Psyche geworden. Auf dem Cover findet sich unter anderem Ouroboros, die sich selbst verzehrende Schlange. Für Leon Vynehall das perfekte Symbol für den wohl niemals enden wollenden Prozess der Selbstfindung und der Frage nach dem Warum — für deren Beantwortung er sich eben des Musikmachens bedient. »Das Album macht mich sehr verwundbar. Ich zeige meine Gedanken, meine Probleme mit mir selbst, meine Ängste und meine Sorgen. Dabei hoffe ich natürlich, dass jemand, der die Platte hört und dabei ähnliche Dinge durchlebt, das auch spüren kann! Es war ziemlich hart, weil ich vollkommen ehrlich zu mir selbst sein musste. Aber es hat mir viel über meine eigene psychische Verfassung gezeigt.«

Diese hyper-persönliche Herangehensweise an den musikalischen Prozess überrascht umso mehr, weil man Vynehall in den letzten zehn Jahren als eher medien-scheuen Künstler wahrgenommen hat. »Es gibt diesen Konflikt in mir«, grübelt er, »wo ich was zu sagen habe und ich will, dass die Leute es hören. Aber ich bin zu schüchtern, es zu sagen. Darum denke ich, tue ich heute eben das, was ich tue. Du stellst irgendwann fest, das es deine Pflicht als Künstler ist, dich der Interpretation anderer zu stellen und einfach zu hoffen, dass es irgendjemandem helfen wird.« Am Ende ist »Rare, Forever« ein anspruchsvolles Gesamtkunstwerk geworden, bei dem einzelne Songs zwar durchaus als Solo-Stücke bestehen können, wie das von Streichern dominierte Eröffnungsstück »Ecce! Ego!« oder das bittersüße, in sich verschlungene »Mothra«. An vielen Stellen klingt die Musik sogar wieder mehr nach Club als auf dem Vorgänger, etwa der dubbige UK-Garage-Beat von »Dumbo« oder der unruhige Groove von »Snakeskin ∞ Has-Been«. Aberi ihren Sog entfalten die Stücke erst im Gesamtpaket mit allen Ecken und Kanten, die so eine persönliche Innenschau wohl zwangsläufig offenbart.

»Rare, Forever« auf Ninja Tune erschienen