Es ging ihm nicht um Meisterwerke: Hans Schifferle, Foto: Robin Thomas /  SigiGötz-Entertainment

Leben im Augenblick

Nachruf auf den Filmkritiker Hans Schifferle, der auch in Köln Spuren hinterließ

Hans Schifferle war wahnsinnig schön auf seine selbstbewusst-verschmitzte Art. Dazu liebevoll und großzügig. Qualitäten, die man bei Filmkritiker*innen eher selten findet. Wobei sich die Frage stellt: War Hans ein Filmkritiker? Sicher, für die Süddeutsche Zeitung und die epd Film hat er am Tages- wie Monatsgeschäft teilgenommen. Allerdings hat er sich als Autor nie, wie sich das für diesen Berufsstand eigentlich gehört, der Zeitgeistigkeit hingegeben, weder an »aktuellen« Diskussionen teilgenommen noch sich zu Hypes verhalten. Natürlich hat er sich ab und an zu etwas geäußert, was auch die Leitlinienzieher umtrieb. Dann war es eher so, dass sich seine eigene Welt kurz mit der »offiziellen« kreuzte.

Tatsächlich wollte man von Hans weniger etwas lesen zu Filmen, über die sich die Edelfederbrigade auslassen mochte. Wozu auch? Das wäre doch schiere Verschwendung! Hans war der Autor für vieles, womit sich sonst niemand beschäftigen wollte. Die Genrekonfektion ohne Markenzeichen etwa. Dokumentationen über Themen, die das Bürgertum nicht bewegten. Es ist schwer, alles aufzuzählen, weil die Art von Kino, das Hans liebte, im Kino kaum mehr vorkommt — und selbst im Heimmedienbereich immer seltener wird. Jene Art, für die das Kino selbstverständlich ist. Nichts Großes, eine ganz einfache Sache. Alltag. Ein Stück Leben und eine Ahnung davon, wie aufregend es ist, auf der Welt zu sein. Was da alles passieren und was man da alles sehen oder hören, verlieren oder gewinnen kann.

Hans ging es nicht um Meisterwerke, sondern um Augenblicke. Abweichungen, die neue Perspektiven eröffnen. Und die fand er immer da, wo das Kino sichtbar wurde, weil es aufhörte, sich um seine Respektabilität zu scheren. Gemeinhin verweist man dafür auf Hans’ Liebe zu Horrorfilmen und Pornos, zu Getriebenen wie Hugo Haas in seiner US-Phase oder zu Eckhart Schmidt in seinen Zyklen, die er nur noch per DVD zugänglich macht. Oder ganz generell auf seine Neigung zu den Nebenwerken der Großen. Aber Hans fand diese Momente, wo sich das Kino als ein Stück Massenlebensfreude und -subversion offenbarte, auch in den durchkanonisiertesten Filmen. Dieser Blick hängt nicht mit Produktions- oder Distributionskategorien zusammen — also Arthouse oder Multiplex oder Videoladenregal. Er ist verbunden mit der Befähigung und dem Willen dazu, diese Augenblicke zu sehen. Diese Gefühle und Gedanken zuzulassen.

Und das haben wir Kölner von dem überzeugten Münchner gelernt. Besser gesagt: diese Ge­­fühle hat er in uns verstärkt. Er hat uns gezeigt, dass man sich ihnen hingeben darf. Wir, das sind so einige aus der ersten Generation des Filmclub 813. Dazu gehören aber auch die Leute, die Labels wie »Something Weird Cinema« oder »Besonders Wertlos« machen. Nicht zu vergessen die Kölner Gruppe. Trotz einer gewissen Schnittmenge mit den Vorgenannten ist sie eine eigene Erwähnung wert. Nicht nur, weil Hans für das Programmheft des Filmmuseum München über die »Cine-Desperados vom Rhein« und ihr gelebtes Kino geschrieben hat. Auch um in Trauer noch einmal Filmemacher Kai Maria Steinkühler zu gedenken. Und ohne die Texte von Hans Schifferle in der aus Köln kommenden Steadycam, dem letzten und bei allen Momenten des Zweifels dann doch ernstzunehmenden bundesdeutschen Filmmagazin, wäre vieles davon nicht denkbar gewesen.

Als wir vor Jahren mal zusammen saßen, meinte Hans plötzlich: »Da kam letztens so ein netter junger Bursche zu mir und fragte mich, welche Jess-Franco-Filme man denn kennen müsse. Ich sagte: ›Natürlich alle!‹ Aber er meinte, dass er nur die ›richtig Guten und Wichtigen‹ sehen wolle.« Wenn heute das Münchner Werkstattkino, eine von Hans Schifferles Wahlheimaten, Filme von Lucio Fulci oder Jess Franco zeigt, dann ist der Filmhimmel im Keller der Gaststätte Fraunhofer längst nicht mehr so voll wie früher. Filme von Regisseuren wie Roel Reiné, Don Michael Paul oder James Nunn, die heute in etwa das sind, was in den 1980ern und 1990ern zum Beispiel Robert Mandel, Katt Shea (Ruben) oder Luis Llosa waren, schaffen es nicht ins Kino. Selbst bei Genrefestivals tauchen sie kaum auf, weil sie für das Publikum dieser Tage zu kunstlos sind — was sie aber ja genau sein wollen! Und wo kann man heute schon noch Pornos in einem richtigen Saal schauen, zusammen mit anderen Menschen? Der Schifferlesche Blick lebte davon, dass Filme unwichtig und doof sein dürfen — flüchtig und vergänglich. Aber welche Filme dürfen das im Kino noch sein, jetzt, wo alles Dauerfestival und Ausnahmezustand, Exklusivitätsedelkonsum zu sein scheint, und wo sich auch im Fernsehen wenig abspielt jenseits von »Alarm für Cobra 11 — Die Autobahnpolizei«, dem vielleicht unterschätztesten Beitrag Kölns zur TV-Kultur hierzulande. Einem der letzten hiesigen Beispiele für ein Genrekino (!), das an Singing Cowboy-Western und Strandparty-Popmusik-­Komödien erinnert?

Das soll nicht heißen, dass es das Schifferlesche Kino nicht mehr gäbe. Denn es ist ja im Prinzip unabhängig von realen Gegebenheiten. Nur es ist schwieriger denn je, dieses Kino zu leben. Und genau deshalb muss man Filme weiterhin so schauen, als könnten sie sich in jedem Moment nur für einen selbst öffnen. Zur Tür werden in eine andere Welt, die in dieser unserer Welt steckt. Weil es so schwer ist zu lieben, aber notwendig. Hans Schifferle mag am 30. März 2021 im Alter von 63 Jahren an Krebs gestorben sein, aber wo auch immer zwei oder drei im Kino sitzen und alle möglichen Leben dieser Erde sehen in einer Katze, die ungefragt durchs Bild streicht, da ist auch Hans auf seine Weise anwesend.