So geht Genre ohne Originalitätsallüren

»Sentinelle« von Julien Leclercq

Packende Action mit klugen Untertönen. Typisch Julien Leclercq!

2020 hätte das Jahr Julien Leclercqs werden sollen: Zwei neue Filme des französischen Action-Maestro  waren angekündigt — so hart arbeiten ansonsten nur Hongkonger an dieser speziellen Produktionsfront. Doch dann machte Corona ihm einen Strich durch die Rechnung: »La Terre et le sang« wurde fertig und erschien im Frühjahr auf Netflix, »Sentinelle« blieb zunächst in der Postproduktion hängen. Aber das Leben geht weiter, Liegengelassenes wird aufgegriffen und zu Ende gebracht, so auch

»Sentinelle«. Der Titel hat eine doppelte Bedeutung: Zum einen verweist er auf die gleichnamige Operation, mit der die französische Armee und die Gendarmerie seit 2015 versuchen das Land besser gegen Terroranschläge zu schützen.  Das gelang bislang, vorsichtig gesagt, bloß bedingt. Er verweist aber auch auf die Protagonistin: Klara ist Soldatin der französischen Streitkräfte. Sie hat als Übersetzerin im Rahmen der Anti-IS-Operation Chammal in Syrien ge­­dient, und nach einem Selbstmordattentat, das sie knapp überlebte, rekonvalesziert sie im heimischen Nizza bei ihrer Familie. Klara sieht sich als Wächterin über das Leben ihrer Schwester Tania — und als diese eines Abends bei einer Party vergewaltigt wird, tut Klara, was sie tun muss, ist sich jedoch bewusst, dass man zwar einen Täter töten kann, aber damit auch das eigene Leben zerstört. Frieden sieht anders aus.

Leclercq ist nicht gerade ein Liebling der Kritiker*innen. Wenn sie ihn nicht ignorieren, watschen sie ihn meist leichtfertig ab, weil seine Werke unprätentiös und frei von allen Originalitätsallüren sind. Leclercq erzählt auf Plot-Ebene nichts, was man nicht schon mal so oder so ähnlich im Kino gesehen hätte. Wichtiger ist, wie er das erzählt. Das macht er knapper, konziser und mit einem feineren Sinn für sprechende Details als irgendein vergleichbarer Genre-Auteur in Europa. Seine größten Fans hat er unter den Kolleg*innen: Dominik Graf und Robert Schwentke etwa bewundern sein fast unheimliches Bewusstsein für narrative wie gestalterische Ökonomie. Auch ­Olivier Assayas spricht achtungsvoll über ihn als formidables Beispiel seines Handwerksfachs. Graf schätzt zudem seine Klugheit im Bezug auf Themen wie etwa Herkunftshintergründe. Das spielt auch hier, neben sexuellen Orientierungen, wieder eine große Rolle: Julien Leclercq geht es darum, dass institutionalisierte Machtverhältnisse — Klischees davon, wie die Welt funktioniert — für Gewalt und deren Eskalation sorgen. Wahrscheinlich erwartet niemand ein anti-patriarchalisches Traktat von einem Netflix-Klopper. Das bekommt man hier aber, wenn man Genrefilme und deren subversiven Potenziale liebt.

(dto)F 2021, R: Julien Leclercq, D: Olga Kurylenko, Marilyn Lima, Michel Biel, 80 Min, auf Netflix verfügbar