Coming-of-Age-Geschichte mit Schnurrbart: »Das Gesetz der Schwerkraft«, Foto: Marina Sturm

Das Festivalwagnis

Die Ruhrfestspiele sollen in Präsenz stattfinden. Ein Wagnis mit Symbolkraft

Der Gründungsmythos der Ruhrfestspiele klingt heute aktueller denn je. Angefangen hat alles, als den Hamburger Theatern der Shutdown drohte. Weil den Theaterleuten im kalten Winter 1946 die Kohle zum Heizen der Spielstätten ausging, machten sie sich auf den Weg ins Ruhrgebiet, um die Arbeiter*in­nen in den Zechen um Hilfe zu bitten. In Recklinghausen wurden sie fündig und fuhren mit zwei LKW-Ladungen Kohle zurück nach Hamburg. Zum Dank gastierten sie ein Jahr später unter dem Motto »Kunst für Kohle« in Recklinghausen. Die Ruhrfestspiele waren geboren. Heute sind die Theater längst schon zu, wenn auch aus anderen Gründen. Zur Jubiläumsausgabe, den 75. Ruhrfestspielen, die vom 1. Mai bis zum 20. Juni stattfinden, wollen Intendant Olaf Kröck und sein Team die Theater nun wieder öffnen.

Im Gegensatz zu den vielen Kulturevents, die in diesem Sommer ein weiteres Mal abgesagt werden, haben sich die Organisator*in­nen der Ruhrfestspiele dazu entschieden, das Theaterfestival in Präsenz zu planen. Passend dazu lautet das Festivalmotto »Utopie und Unruhe«. Bis zum dem angepeilten Start im Mai wird man in Recklinghausen unruhig auf neue Infektionszahlen und politische Auflagen blicken, während man von Theaterabenden mit richtigem Publikum träumt.

Mit Blick auf die pandemische Lage erscheint das utopisch, doch nicht für Olaf Kröck. Von personalisierten Tickets über reduzierte Kapazitäten, bis hin zu entzerrten und mit Belüftungsanlagen ausgestatteten Spielstätten haben Kröck und sein Team in Absprache mit Politik und Behörden ein tragfähiges Hygienekonzept erarbeitet. »Bei den Planungen war auch Realismus dabei. Wir sind gut aufgestellt, um unter sehr sicheren Voraussetzungen live stattzufinden«, konstatiert Kröck im Interview. Er weiß aber auch, dass das nichts heißen muss. Sollten die Corona-Auflagen ein Live-Festival nicht zulassen, werden die Ruhrfestspiele digital stattfinden. So mussten Kröck und sein Team in den letzten Monaten gleich zwei Festivals organisieren: Eins für den Fall, dass live gespielt werden kann und eins für den Umzug in den digitalen Raum. Für Kröck ein Risiko mit Signalwirkung: »Wir wollten uns nicht vorauseilend selbst abschaffen und zum Verschwinden bringen. Genau das ist es, wozu so viele Kultur- und Kunsteinrichtungen momentan gezwungen sind. Das wollen wir auch als Symbol verstanden wissen.«

Doch nicht alle Veranstaltungen lassen sich im Falle des Falles in eine digitale Form übersetzen. Etwa die Tanztheater-Performance »Transverse Orientation« des griechischen Choreografen Dimitris Papaioannou. Seit eineinhalb Jahren schon ist die neue Inszenierung von Papaioannou fertig. Corona verhindert bisher die Aufführung. In Recklinghausen soll es nun klappen, doch Papaioannou besteht auf eine Premiere als Live-Aufführung. »Wir kriegen also entweder das ganz große Glück einer Weltpremiere, oder es findet gar nicht statt und wir müssen bis nächstes Jahr warten«, erzählt Kröck.

Insgesamt seien die Pläne der Ruhrfestspiele »sehr positiv« von den eingeladenen Künstler*innen aufgenommen worden. »Der Tenor lautete: Endlich geht jemand diesen Schritt«, erzählt Kröck. Man mag das glauben, wenn man auf das Festivalprogramm blickt. 90 Produktionen mit rund 210 Veranstaltungen sind geplant. Über 650 Künstler*innen aus rund 20 verschiedenen Ländern haben zugesagt. Auf der Bühne eröffnen Kaori Ito und Yoshi Oida das Festival mit ihrer Deutschlandpremiere der »Seidentrommel«, einer japanisch-französischen Koproduktion zwischen Theater und Tanz. Aus Belgien reist die Choreografin und Balletttänzerin Anne Teresa De Keersmaeker mit ihrer performativen Interpretation der »Goldberg Variationen« von Johann Sebastian Bach an. Das Berliner Ensemble ist unter der Regie von Barrie Kosky mit ihrer »Dreigroschenoper« zu Gast. Von der Schaubühne Berlin kommt Lars Eidinger als Hochstaplerkönig »Peer Gynt« ins Ruhrgebiet. Spannend dürfte auch die »Konferenz der Abwesenden« werden. Bei der Produktion des Theaterkollektivs Rimini Protokoll wird das Publikum vor Ort eingebunden und soll widerstrebenden Thesen zu Themen wie Globalisierung und Klimakrise aufführen.

Neben Schauspiel und Performance wird auch Akrobatik, Kabarett, Literatur und Musik geboten. Ein weiteres Mal bittet der Literaturkritiker Dennis Scheck bei den Ruhrfestspielen zum Gespräch. Zu Gast sind unter anderem die Autorin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo, die im Frühjahr mit ihrem Roman »Adas Raum« für Furore sorgte. Außerdem Daniel Kehlmann, der mit »Die Vermessung der Welt« und zuletzt »Tyll« zu den wichtigsten deutschen Schriftstellern der Gegenwart zählt. Zum ersten Mal soll auch das Sportstadion Hohenhorst zur Spielstätte der Ruhrfestspiele werden. Hier sind vor allem musikalische Auftritte geplant. Der Entertainer und Musiker Helge Schneider wird sein Festspiel-Debüt feiern. Auch der Komponist und Pianist Chilly Gonzales hat sich angekündigt. Ob nun digital oder live: Das Programm der Ruhrfestspiele verspricht, der in der Corona-Pandemie oft vergessenen Theaterszene neue Präsenz zu verleihen.

Ruhrfestspiele Recklinghausen, 1.5.–20.6.