Futter für Neurosen: Rachel Sennott als Danielle

»Shiva Baby«

Emma Seligmann inszeniert eine Trauerfeier als Bühne für die Krise von Lebensentwürfen

»Who died?« Diese Frage wird im Trauerhaus immer wieder gestellt. Gestorben ist irgendeine Annie oder Abbie, aber das scheint den Gästen herzlich egal zu sein. In Emma Seligmans Film ist die Shiva (die nach der Beerdigung einsetzende Trauerwoche im Judentum) keine Zeit der Trauer, sondern der Anspannung und der Scham. Wir erleben Danielle, bisexuelle Protagonistin und Gravitationszentrum des Films, in der ersten Szene des Films noch in vamphafter Manier mit einem gönnerhaften »Mäzen« beim bezahlten Sex. Doch im Beisein ihrer jüdischen Familie ist sie das orientierungslose Mädchen, um das man sich Sorgen macht. »Sie ist abgelenkt«, erklärt die Mutter einmal Danielles Fahrigkeit. Die Gesprächs­partnerin beruhigt die Mutter: »Eine Krankheit ist das nicht. Das ist therapierbar.«

Für die Eltern Debbie und Joel ist Danielle (umwerfend gespielt von Rachel Sennott) nicht die Tochter, auf die man stolz ist – sie lebt in keiner Beziehung, jobbt (vermeintlich) als Babysitterin und studiert was mit Gender. Vor dem Besuch der Shiva einigt man sich auf eine »Story«: Danielle mache gerade ihren Abschluss und habe eine Reihe aussichts­reicher Bewerbungsgesprächen vor sich.

»Shiva Baby«, Seligmans Regiedebüt, ist ein kleines Kunststück in der Orchestrierung von Blicken, Gesten, Dialogen und »Action«. Zwischen bissiger Komödie und Nervenzusammenbruchs-Drama folgt der Film seiner Hauptfigur durch ein Zuviel an Menschen und belegten Bagels, ein Zuviel vor allem an prüfenden Blicken und neugierigen Fragen zu Erfolgen und Zukunftsplänen. Anstrengend auch, dass sich unter die Gäste ausgerechnet Maya, Danielles Ex-Freundin reiht, über die sie nicht hinweg ist und neben deren Bilanzen — Jura-Abschluss, Studienplatz an der Columbia University — sich der eigene Lebenslauf erst recht kläglich ausnimmt. Debbie zerrt sie panisch von einer Ecke in die andere, stellt ihr Leute vor, die ihr ein Praktikum oder wichtige Kontakte verschaffen sollen, ermahnt sie, mehr zu essen und weniger zu flirten, und sie wischt ihr einmal sogar übergriffig mit dem Finger etwas »Shmutz« aus dem Gesicht. Als dann auch noch ihr Sugar Daddy Max mit seiner blonden Bilderbuch-Shiksa und dem gemeinsamen Baby auftaucht, verliert Danielle die Fassung. Blessuren und Kaffeeflecken auf der weißen Bluse werden zu Vorboten einer Eskalation.

Seligman, aus Toronto stammende Wahl-New Yorkerin, erzählt die Shiva als Stress, klaustrophobisch und auf eher kleiner Flamme köchelnd. Danielles Überforderung, ihr Navigieren zwischen Angriff, Anpassung und Kapitulation, wird auf allen Ebenen der Gestaltung in Szene gesetzt — wenn etwa Gesprächsfetzen aus dem Hintergrund zu hören sind, Handlungen sich gleichzeitig ins Bild drängen oder die Kamera ruckartig ihren angespannten Blicken folgt. Hinzu kommen die nervösen Streicherklänge des Komponisten Ariel Marx. Sie sind kleine, gezielte Attacken auf das Nervensystem und wären auch in einem Horrorfilm gut aufgehoben. Doppelbödig sind auch die Dialoge, mitunter werden sie zum Medium für versteckte Botschaften und latente Drohungen — etwa wenn Alex und Danielle im Beisein ihrer Eltern über das »Babysitten« sprechen und in Wahrheit ihre Sexarbeit meinen. Erst mit der Zeit wird klar, dass Danielle nicht aus finanzieller Not mit Männern schläft, für sie ist die Sexualität vielmehr ein Feld des Empowerment — ein Konzept, das im Laufe der Shiva jedoch in sich zusammenfällt.

Themen wie weibliche Sexualität, Versagensängste und Anpassungsdruck werden in »Shiva Baby« erfrischend bearbeitet. Seligman findet einen eigenen Ton — weniger narzisstisch und fremdschambesessen als viele Filme über die Krisen von Lebensentwürfen junger Frauen, aber immer schön neurotisch.

(dto) USA/CA 2020, R: Emma Seligmann
D: Rachel Sennott, Molly Gordon, Polly Draper
77 Min., ab 11.6. auf MUBI verfügbar