Blick in den Möglichkeitsraum: Tom Jenkinson, Foto: Donald Milne

Nacht ohne Ängste

Ein Vierteljahrhundert Squarepusher: Eine Reise zurück an einen der Startpunkte der Zukunft elektronischer Musik

Am 31. Januar 2020 war die Welt in Ordnung. Zumindest dachten wir so in Deutschland, in China sah es schon anders aus. In jener Nacht aber spielte Tom Jenkinson, seit nunmehr 25 Jahren besser bekannt unter seinem Alter Ego Squarepusher, im Rahmen des CTM Festivals im Berliner Berghain — und man kann es nicht anders sagen: Er zerlegte diesen Dance Floor in einer Art, wie nur wenige vor ihm, und das will an diesem Ort wirklich etwas heißen! Es war die erste und zugleich vorletzte Performance zum damals neuen Squarepusher Album »Be up a Hello«, in der Nacht danach folgte noch ein Showcase-Auftritt in London, jedoch »nicht mit dem körperlichen Einsatz wie im Berghain, dem perfekten Ort, um in einen Tranceartigen Zustand zu kommen«, so Jenkinson.

Danach kam Covid-19 in Europa an und die Clubtüren schlossen sich — seitdem lümmelt Jenkinson mehr Zuhause auf dem Sofa rum als ihm recht ist.

Man könnte die Wiederveröffentlichung seines Debütalbums »Feed Me Weird Things« im ersten Reflex als Ergebnis einer nostalgischer Reise ins eigene Archiv be­greifen. Aber dem war nicht so — ganz grundsätzlich, da Jenkinson Nostalgie ablehnt, aber auch rein praktisch, da das Album bereits seit sechs Jahren neu gemastert auf das richtige Datum gewartet hat: das 25jährige Jubiläum.

Es sei nicht seine Idee gewesen, erklärt Jenkinson, »aber es schien mir sinnvoll. Das Album existierte zuletzt nur in diesem schrecklichen Second-Hand-Plattenmarkt, wo die Preise explodieren, einzig und allein, da das Produkt so rar ist. 50, 100 oder gar 300 Euro für eine Platte — das ist Bullshit. Das hat nichts mehr mit der eigentlichen künstlerischen Intention zu tun. Insofern ist die Wiederveröffentlichung mit der Ambition verbunden, den Markt zu sabotieren.« ­­Man hört Jenkinson mit Freude zu, wenn er dem, was wir gerne Spätkapitalismus nennen, seine Verachtung entgegen schleudert: »Viel Geld korrumpiert die Menschen, weswegen ich nie versuchen werde, extrem viel Geld zu generieren. Mein Gefühl sagt mir: Geld fuckt die Leute ab, es beeinflusst die Entscheidungen negativ und bringt dich weg von den guten Leuten, es macht dich unsozial.«

Blicken wir zurück in die Jahre 1995 und 1996, als »Feed Me Weird Things« entstanden ist. Die Aufnahmen dokumentieren eine wichtige Phase in Jenkinsons Leben, der damals nach London gezogen war, um am College of Art and Design in Chelsea zu studieren, sich aber ins Nachtleben stürzte und sich davon inspiriert vor das damals noch sehr rudimentäre Equipment setzte, um an jener Musik zu basteln, die unter dem Signet Squarepusher bekannt werden sollte: ein wunderbar sperriger und zugleich doch eingän­giger Hybrid aus futuristischen Drum’n’Bass-Beats und Ambient-Soundscapes. Und das alles durchbrochen von organischen Komponenten, sei es durch von ihm selbst eingespielte Bass- und Gitarrenspuren oder seine stets präsenten Jazz-Einflüsse.

Angetrieben wurde Jenkinson in jenen frühen Jahren von einem Klima der Hoffnung, denn nach einer viel zu langen Durststrecke konservativer Politik mit brutalen sozialen Folgen für die britische Bevölkerung schienen die Zeichen auf Aufbruch. Die Hoffnungen, die auf Labour Partei projiziert wurden, sollten sich — analog zu den deutschen Erfahrungen mit Rot-Grün — nicht erfüllen. »Wir wussten noch nicht, welche Enttäuschungen Tony Blair für uns bereit hält«, bringt es Jenkinson trocken auf den Punkt. Damals aber tanzte er noch euphorisch zu Jungle und Drum’n’Bass und war »aufgeregt, ein Teil davon zu sein«.

In einer jener Nächte lernte Jenkinson im Nordlondoner Pub Sir George Robey Richard D. James kennen, besser bekannt als Aphex Twin — der Startschuss ihrer Freund­schaft und der Zusammenarbeit, die dazu führen würde, dass Jenkinsons Debüt »Feed Me Weird Things« auf dem von James und Grant Wilson-Claridge betriebenen Label Rephlex veröffentlicht wurde. Er erinnert sich: »Wir tauschten Nummern aus und verabredeten uns zum Musikhören. Ich hab ihm dann ungefähr vierzig Tracks auf Tape gegeben und er hat zwölf davon ausgewählt. Er hat die Entscheidung getroffen, ich habe mich da nicht groß eingemischt, mein Respekt war zu groß. Ich war einfach nur happy, ein Album für Rephlex zu machen.«

Wobei der Respekt auf Gegenseitigkeit beruht, zumindest verkünden dies die Sleevenotes zu »Feed Me Weird Things«, die Richard D. James seinem Freund hineingeschrieben hat: »Squarepusher gives us the SOUND of SOUND.« Darauf angesprochen lacht Jenkinson zunächst, liefert dann aber die passende Lesart: »Sound ist die Überkategorie zu Musik — konservativ könnte man sagen, dass Musik erwünschter Sound ist und Noise unerwünschter Sound. Auf meinem Dokumenten steht zwar die Berufsbezeichnung Musiker — manchmal lustigerweise auch Entertainer, obwohl ich eher nervig als unterhaltsam bin —, aber eigentlich geht es mir nicht bloß um Musik, sondern um den sonischen Möglichkeitsraum im weiteren Sinne.«

Viele Musiker wollen nichts so sehnsüchtig als futuristisch klingen — und enden doch nur bei der Reproduktion bekannter Ideen. In der Musik von Squarepusher begleitet den absoluten Willen zum Neuen immer ein großer Respekt für das Vergangene, nicht zuletzt durch das Miteinander elektronisch-­programmierter und organischer Elemente. »Ich habe diesen einen immer wieder kehrenden Traum von einem Musikstück, dem lost track, der allem, was ich mache, Sinn gibt«, führt Jenkinson aus.

»Es fühlt sich im Traum so gut an, wenn ich endlich an dem Punkt ankomme — und dann wache ich auf und werde mit der Realität konfrontiert. Diese Träume sind ein wichtiger Antrieb für mich.«

Dass die Musik, die er damals in seiner kleinen Studentenbude produziert hat, bis heute so viele Menschen begeistert, das sei »absolut faszinierend«, merkt Jenkinson an und spinnt den Gedanken fort: »Als ich sehr jung war und gerade erst Skalen und Akkorde lernte, fragte ich mich, warum Moll und Dur so unterschiedliche Stimmungen in sich tragen. Wie kann eine Ansam­mlung von Noten, die sich so ähnlich sind, nur dass sie woanders starten, eine so unterschiedliche Klangfarbe transportieren und unterschiedliche Emotionen aus­lösen? Meine Musik ist eine fort­gesetzte Erforschung von diesen Gedankengängen. Wir kennen das, man reagiert an einem Tag so auf die gleiche Musik und am anderen ganz anders. Wenn man es um­­dreht: Musik, die immer das Gleiche auslöst — ist das gut? Wenn ich sie produzieren könnte, wäre das sinnvoll?«

Deswegen sei es ihm auch nie darum gegangen, eine Karriere zu starten und dafür zu einer »Marke« zu werden. »Ich riskiere gerne etwas mit meiner Musik — auch wenn ich nicht so tun will, als sei ich der größte Risikokünstler von allen. Aber ein gu­tes Beispiel: als ich nach »Big Loada« das Jazz-Album »Music Is Rotted One Note« veröffentlich­te, wollte es niemand hören. Aber für mich war es wichtig. Es war mein ex­pliziter Wunsch, für eine Unterbrechung der kommerziellen ­Ver­­­wertbarkeit meiner Musik zu sorgen.«

Eine Ambition, die damit zu tun haben könnte, dass Jenkinson klare Arbeitsverhältnisse Angst einjagen, er pflegt seit frühester Kindheit ein sehr ambivalentes Gefühl zur Erwerbstätigkeit. »Ich war ungefähr sieben Jahre alt und saß heulend bei meiner Großmutter in der Küche«, erzählt er. »Sie fragte mich, was los sei — und ich antwor­te­te: Ich möchte nie einen Job nach­gehen müssen! Ich hatte damals das Gefühl, dass ein Job mich umbringen würde. Ich wusste natürlich damals nicht, was es wirklich bedeutet zu arbeiten, ich kannte das nur aus dem Fernsehen oder von meinem Vater.«

Wie viele andere erfolgreiche Menschen träumte Jenkinson lange davon, einen radikalen Bruch zu wagen, alles liegen zu lassen und Philosophie zu studieren. Doch immer wenn er fast so weit war, meldet sich die Idee zu einem neuen Album und der Traum löste sich auf. Das sei zwar schade, merkt er an, es habe ihm aber immerhin geholfen, »eine gewisse Leichtigkeit rund um das Musikmachen zu kultivieren.«

Für jemand, der Nostalgie so sehr hasst wie Jenkinson, überrascht sein scheinbar akribisch gepflegtes Archiv. Zumindest vermittelt das Booklet zu »Feed Me Weird Things« mit den zahlreichen Fotos, Trackskizzen und Erinnerungskleinoden ein anderes Bild. »Ich habe keineswegs die Menta­lität eines Archivars«, betont Jenkinson, aber »irgendwas in mir arbeitet trotzdem dem Archivieren zu«. Es liege am »romantischen Charakter des Musikaufnehmens«, womit er explizit nicht den schöpferischen Akt des Musikproduzierens meint, sondern die Dokumentation dieses: »Bevor ich ein Musiker war und Instrumente hatte, besaß ich einen Tape-Rekorder, die Technologie ist einfach und doch haftet dem Aufnahmen mit Tape etwas Geheimnisvolles an. Mo­men­te in der Zeit aufzunehmen — wenn auch nur in einer mittel­mäßigen Repräsentation des Events —, stellt eine Beziehung zwischen deiner Erinnerung der Ereignisse und der Aufnahme her. Ab da begann eine Beschäftigung mit Musik, die über den Hörerstatus hinaus geht. Ich habe alles mögliche aufgenommen, nur wegen der Faszination, die es bei mir auslöste, die Aufnahmen danach wieder an­hö­ren zu können und die Momente nochmals zu erleben. Ein technisch assistiertes Gedächtnis.«

Was noch nicht erklärt, warum er die Fotos und Notizen auch nach 25 Jahren noch hat. Jenkinson über­legt kurz und liefert eine schön ehrlich-triviale Antwort zur Abwech­s­lung: »Ich weiß nicht, ob ich diese Sachen überhaupt bewusst aufgehoben habe, ich habe sie nur in eine Box geworfen, die ich nie weggeschmissen habe.«

Mittlerweile schreiben wir das erste Maiwochenende des Jahres 2021. Ich sitze in meinem Isolations­wohnzimmer und muss an Tom Jenkinsons Worte von der mittelmäßigen Repräsentation der Klangwirklichkeit denken — und das mit schlechten Gewissen. Denn ich höre eine Aufnahme, die es nach den strengen Regeln des Nachtlebens nicht geben dürfte, den unautorisierten Butt-Call-Mitschnitt des Berghains Auftritts aus dem vergan­genen Jahr auf meinem Handy. Außer übersteuerten Noisegeräu­schen und Schreien ist eigentlich nichts zu hören, ich aber höre den fantastischen Soundtrack einer Nacht ohne Ängste, einer Nacht, in der noch alles möglich war. Was kann einem Musik Schöneres schenken?

Tonträger: Squarepusher, »Feed Me Weird Things«, bereits erschienen auf Warp