Etwas andere 68er

Madame Claude von Sylvie Verheyde

Sylvie Verheyde porträtiert die berüchtigte Bordellchefin im Licht ihrer Zeit

In den 1950er Jahren begann Fernande Grudet, junge Frauen — tendenziell aus einfacheren Verhältnissen — für ihren Luxus-Escort-Service anzuwerben. Madame Claude, wie sie sich genussneutral nannte, war ausschließlich an (einfluss-)reicher Kundschaft interessiert, was sie allein dadurch zeigte, dass man sie nur telefonisch erreichen konnte — zu einer Zeit, als nur die Elite so einen Apparat daheim hatte. Sylvie Verheydes Filmbiografie beginnt 1968, als Madame Claude mit Mitte Vierzig auf der Höhe ihres Ruhms, ihres Einflusses und ihrer Macht steht. Die Marković-Affäre beschäftigt gerade die Gemüter. Alain Delons Leibwächter wurde erschossen, die Namen von Unterweltgrößen wie François Marcantoni beginnen als Verdächtige zu zirkulieren, dann soll es kompromittierende Fotos der Ex-Premiereminister-Gattin und Jet Set-Königin Claude Pompidou gegeben haben... und Madame Claude kannte sie alle.

Auf einer Ebene ist Verheydes »Madame Claude« eine auf die Präsidentschaftszeit Pompidou konzentrierte Alternativ-68er-Vision, in der aufständische Student*­innen und streikende Arbeiter*­innen nicht mal mehr im Hintergrund vorkommen — und das Normalbürgertum nichts davon mitkriegt, was in der Machtwelt geschieht. So wie andererseits ­Grudet und ihre Mitarbeiterinnen nicht wirklich wissen, worin sie verwickelt werden, wenn bei Sex­treffen plötzlich Entführungs- oder Killerkommandos wer weiß welchen Nachrichtendiensts auftauchen, oder Putschs passieren in Ländern wie dem Tschad oder der Zentralafrikanischen Republik kurz nach dem Besuch einer Claude-Escort-Dame bei einem dortigen Dignitaire. Und das erzählt Verheyde einfach geradeheraus, moralinfrei, kristallin. In Wirklichkeit ist es eine Welt ohne Geheimnisse, zumindest was die Gewaltverhältnisse angeht.

Auf der anderen Ebene erzählt sie eine Geschichte von Frauen, die sich Männern aussetzen, um an Geld und Macht zu gelangen. Darin steckt eine Erzählung asymmetrischer Begehren, Abhängigkeiten und Hoffnungen. Fernande ­Grudet/Madame Claude findet in Sidonie die Tochter-Assistentin-Geliebte, die sie gerne gehabt hätte, während sich ihre leibliche Tochter von ihr entfremdet und Sidonie in ihrem Liebhaber, dem Großgangster Joseph Attia, eine Vaterfigur findet. Den leiblichen Vater wiederum bringt sie vor Gericht, weil er sie als Kind missbraucht hat. Fernande kommt aus einer anderen Zeit, auch wenn sie als Fernsehjunkie schon weiß, wo die Zukunft liegt. Sidonie raucht Virginia Slims, das selbsternannte Markenzeichen des Kapitalistischen Feminismus, auf den Markt gebracht im Jahre 1968. Aktueller konnte man kaum konsumieren. Ihre Revolte war das Einswerden mit der Mode und dem Augenblick.

(dto) F 2021, D: Sylvie Verheyde, D: Karole Rocher, Garance Marillier, Roschdy Zem, 112 Min., auf Netflix verfügbar